Guten Abend,

in anderen Ländern hätte er für seine Verdienste um die Aufklärung von politischer Korruption vielleicht einen Orden bekommen, bei uns in Österreich bekommt Julian Hessenthaler aber Wasser und Brot. Seit Ende des vergangenen Jahres sitzt der Mann, der das Ibiza-Video gemacht hat, in Untersuchungshaft: Jener Mann, der gemeinsam mit einer vermeintlichen Oligarchennichte den damaligen FPÖ-Chef Heinz Christian Strache und den damaligen Stadtrat Johann Gudenus auf Ibiza in die Falle lockte, wird morgen vor dem Landesgericht St. Pölten der Prozess gemacht. Es geht aber nicht ums Video, sondern um ein schweres Drogen- und mehrere Fälschungsdelikte. Hessenthaler soll "zu einem noch festzustellenden Zeitpunkt" in den Jahren 2017 und 2018 rund ein Kilogramm Kokain verkauft haben (ein Gramm um 40 Euro) und mit gefälschten Ausweisen (Führerschein, Personalausweis) unterwegs gewesen sein.

So weit die Anklage. Das Gericht wird entscheiden, ob an den Vorwürfen etwas dran ist. Die Drogenvorwürfe stützen sich auf Zeugenaussagen. Die falschen Papiere wurden zum Teil bei Verkehrskontrollen entdeckt.

Im Vorfeld des Verfahrens passiert aber etwas höchst Ungewöhnliches: 15 renommierte NGOs, darunter Amnesty International, Epicenter Works, Reporter ohne Grenzen, aber auch der höchst angesehene Menschenrechtsprofessor Manfred Nowak (er war einst UN-Berichterstatter über die Folter) nennen den Prozess gegen Hessentahler ein "abschreckendes Beispiel" für eine "ausufernde Strafverfolgung". Es sei auf Hessenthaler "politische Jagd" gemacht und mit völlig unverhältnismäßigen Mitteln gegen ihn ermittelt worden.

Das sind massive Vorwürfe. Wie werden sie begründet?

Die NGOs verweisen zunächst darauf, dass sichtlich befangene Polizeibeamte auf Hessenthaler angesetzt wurden. Etwa der ÖVP-Kommunalpolitiker Nico R., der Heinz Christian Strache nach dessen Rücktritt eine SMS mit den Worten schrieb: "Lieber HC, ich hoffe auf einen Rücktritt vom Rücktritt die Politik braucht dich!". Der Chef der Soko-Tape, Andreas Holzer, kannte diese SMS, ließ Nico R. aber weiter gewähren. Erst die WKStA setze dem Treiben ein Ende.

Zweiter Vorwurf: Das Innenministerium habe die meisten Ressourcen in die Verfolgung der Hintermänner des Videos gesteckt, nicht aber in die Aufdeckung der darin dokumentierten und angedeuteten Korruption. Von über 20 SoKo-Mitgliedern ermittelten siebzehn gegen Julian Hessenthaler und nur drei für die WKStA gegen Strache. Das schwarz regierte Innenministerium setzte klare Prioritäten.

Dritter Vorwurf: Um schweres Gerät einzusetzen, habe man zu Beginn schwere Verbrechen konstruiert. So sei gegen Hessenthaler wegen Erpressung ermittelt worden, obwohl sich weder Strache noch Gudenus als Opfer von Erpressung fühlten. Der Vorteil dieser Annahme: Die Polizei konnte – obwohl die Erstellung des Ibiza-Videos ein Bagatelldelikt ("Verbotene Tonaufnahme") ist – Konten öffnen, Funkzellen überwachen, IMSi-Catcher einsetzen, Passagierlisten abfragen, Zielfahnder beauftragen und Observationen durchführen. Sogar das Foto der "Oligarchennichte" wurde veröffentlicht – rechtswidrig, wie ein Gericht später urteilte.

Die Polizei lieferte der Justiz nach diesem Hochamt zwei Belastungszeugen für Drogengeschäfte und die werden nun von Hessenthalers Verteidigung ganz massiv angegriffen. Sie seien von einem dubiosen Informationshändler, der unter anderem für die Novomatic arbeitete, mit rund 55.000 Euro entlohnt worden und hätten ihre Aussagen mehrmals geändert. Kurzum: Die Anklage stützt ihre Argumentation auf windige und möglicherweise gekaufte Belastungszeugen aus der Unterwelt.

Darf das alles wahr sein? Das wird das Gericht klären. Wenn die Zeugen wirklich "gekauft" und ihre Angaben falsch sind, dann hat das Bundeskriminalamt, aber auch die Staatsanwaltschaft Wien ein großes Problem. Das wäre dann eine Staatsaffäre.

Die NGOs, aber auch Menschenrechtler Nowak fordern von der Justiz daher ganz besondere Umsicht. Das Verfahren gegen Hessenthaler sei nicht irgendein Drogenprozess, sondern "es drängt sich der Eindruck auf, dass die österreichischen Behörden nun andere strafrechtliche Vorwürfe heranziehen bzw. in ausufernder Weise verfolgen, um Julian Hessenthaler mundtot zu machen. Anscheinend soll damit auch ein Exempel statuiert werden, das zukünftig potenzielle Informant*innen abschreckt, ihre Meinung frei zu äußern". Ein Strafverfahren müsse aber "objektiv und parteiunabhängig" geführt werden. Es ist bemerkenswert, dass ein Verfassungsprofessor in Österreich darauf hinweisen muss.

Ihr Florian Klenk

Ihr Florian Klenk

aus-dem-archiv

Mein Kollege Lukas Matzinger hat Julian Hessenthaler vor einigen Wochen im Gefängnis besucht. Seine Reportage lesen Sie hier. Wie die Ermittlungen der WKStA torpediert wurden, habe ich hier aufgeschrieben. Wer sich in der Ibiza-Affäre nicht auskennt, kann hier noch einmal alles nachlesen.

aus-dem-falter-1

Für den aktuellen Falter hat sich Benedikt Narodoslawsky umgehört, wie sicher unsere Kinder in den Schulen sind. Barbara Tóth hat recherchiert, welche Firmen an den Schultests verdienen und wo die politischen Interessen in der Sache liegen. Was der Staat tun muss, um zu verhindern, dass Coronaleugner ihre Kinder der Schule und damit auch der Gesellschaft entziehen, haben die Kriminalsoziologin Veronika Hofinger und der Journalist Werner Reisinger aufgeschrieben.

aus-dem-falter-2

Übermorgen jährt sich das Attentat von 9/11 zum 20. Mal. Was von dem folgenschweren Terroranschlag heute noch spürbar ist, haben Barbara Tóth und Matthias Dusini hier aufgeschrieben. Auch Armin Thurnher widmet seinen großen Kommentar der Frage, wie der "Krieg gegen den Terror" den Westen verändert hat und warum wir jetzt an einer Epochenwende stehen. Raimund Löw hat zum Thema mit dem Ex-ORF-Korrespondenten in Washington, Peter Fritz, und der ehemaligen österreichischen Botschafterin, Ewa Novotny, einen Podcast aufgenommen. Es wurde ein interessantes Gespräch, hören Sie rein!

lesetipp

Wie nicht nur der "Krieg gegen den Terror", sondern auch dessen unkoordiniertes Ende Afghanistan ins Chaos stürzte, konnten wir in den vergangenen Wochen anhand eindrücklicher Fernsehbilder sehen. Abertausende Menschen versuchten verzweifelt, das Land zu verlassen. Omar ist einer der wenigen, die es auch gekonnt hätten. Aber er wollte nicht nach Wien. Nina Brnada hat für den aktuellen Falter eine verstörende und außergewöhnliche Familiengeschichte recherchiert.

falter-woche

"Die kulturelle Vielfalt gibt es in der Musiklandschaft oft nur im Pressetext", sagt Clemens Wenger von der Jazzwerkstatt Wien, die demnächst zu ihrem jährlichen Festival lädt. "Noch immer bleiben die Szenen gerne unter sich und tragen durch ihr selbstgefälliges Gehabe auch zum gesellschaftlichen Klima bei. Unser Programm ist ein Angebot, Anderem zuzuhören." Warum der Konzertreigen einen Beatles-Song zum Motto hat, erfahren Sie in unserer Programm- und Kulturbeilage.

Für die Titelgeschichte hat Stefanie Panzenböck die Performancekünstlerin Magda Leeb und den Schauspieler Gregor Seberg zum Duo-Improvisationskabarett "Doppelbuchung" befragt und dabei auch einiges über die unterschiedliche Kindheit der beiden erfahren. Nathalie Großschädl empfiehlt einen Besuch bei der Vienna Fashion Week, und die Fotoserie "Leuchtkasten" zeigt Highlights der "World Press Photo 21"-Schau. Dazu wie gehabt Rezensionen, Empfehlungen und ein kommentierter Wegweiser durch das Veranstaltungsgeschehen.

Coffee for Future

Kleinbäuerinnen und -bauern kultivieren ihre Kaffees im Hochland Mexikos und Uganda, eingebettet in eine üppige Natur. Sie schützen den Urwald und stärken die Artenvielfalt. Eine Prämie ermöglicht zusätzliche Klimaschutzmaßnahmen.

Coffee for Future ist direkt importiert, fair gehandelt, biologisch angebaut, sorgfältig geröstet und aluminiumfrei verpackt. Zusammenarbeit für eine gute Zukunft für alle. www.eza.cc

FALTER
Das FALTER-Abo bekommen Sie hier am schnellsten: falter.at/abo
Wenn Ihnen dieser Newsletter weitergeleitet wurde und er Ihnen gefällt, können Sie ihn hier abonnieren.