✍Vor 16 Jahren erlebte Gisela Mayer etwas, das sich Menschen, die es nicht erlebt haben, nur schwer vorstellen können. Ein 17-jähriger Amokläufer ermordete in der deutschen Kleinstadt Winnenden fünfzehn Menschen. Darunter Nina, Gisela Mayers Tochter, die als Lehrerin kurz vor ihrem Abschluss stand. Sie eilte Schülern zur Hilfe, als der Täter sie erschoss. Nina Mayer wurde an ihrem 25. Geburtstag begraben. Ihre Mutter...
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Trauernde nach dem Amoklauf an einer Schule in der deutschen Kleinstadt Winnenden, aufgenommen am 21.03.2009 (Foto © Goran Gajanin / Action Press / picturedesk)

Vor 16 Jahren erlebte Gisela Mayer etwas, das sich Menschen, die es nicht erlebt haben, nur schwer vorstellen können. Ein 17-jähriger Amokläufer ermordete in der deutschen Kleinstadt Winnenden fünfzehn Menschen. Darunter Nina, Gisela Mayers Tochter, die als Lehrerin kurz vor ihrem Abschluss stand. Sie eilte Schülern zur Hilfe, als der Täter sie erschoss. Nina Mayer wurde an ihrem 25. Geburtstag begraben. 

Ihre Mutter Gisela, selbst Psychologin und Ethikerin, widmete sich später der Aufarbeitung des Geschehens. Sie beteiligte sich an Initiativen zur Gewaltprävention und wirkte am Buch „​Begegnung mit dem Leid“ mit, das Journalisten bei Berichten zu Attentaten anleiten soll. Heute unterrichtet sie an Kliniken und Pflegeschulen. Der Falter erreicht Gisela Mayer am Telefon. 

Falter: Frau Mayer, wie erleben Sie die aktuellen Nachrichten aus Österreich? 

Mayer: Es gibt erstens das, was ich fühle. Und dann das, was ich denke. Mein Gefühl ist nicht Erinnerung, sondern Gegenwart – als wäre der Mord an meiner Tochter erst gestern gewesen. Ich kann nachfühlen, was die Angehörigen heute empfinden. Was ich mir denke: Die Tat in Graz ist eine Kopie von Winnenden. Etwa die Opferzahl, oder auch das Vorgehen des Täters, der ebenfalls in seine alte Schule zurückkehrte. Und das ist kein Zufall. Amokläufer sind meist Nachahmungstäter, die sich sehr genau über ihre Vorbilder informieren.

Seit 2009 setzen sie sich öffentlich für Prävention ein. Wie macht man nach einem solchen Verlust weiter? 

Mayer: Man macht eigentlich gar nicht weiter. Ich habe ungefähr ein Jahr gebraucht, um zu realisieren, dass meine eigene Tochter tot ist. Die Schule ist ein Ort, dem wir unsere Kinder anvertrauen, wo sie ins Leben hineinwachsen. An einem solchen Ort erwarten wir keine Gewalttat an völlig unschuldigen Opfern. Der Täter rächt sich für subjektiv empfundenes Unrecht an Menschen, die nichts mit ihm zu tun haben. Angehörige begreifen das erst sehr viel später. 

Sie haben einmal gesagt, Sie hätten dem Amokläufer verziehen. Wie haben Sie das geschafft? 

Mayer: Eigentlich habe ich es nicht geschafft, sondern das hat sich aus der Beschäftigung mit der Tat ergeben. Ich habe versucht zu begreifen, was das für ein Mensch war. Und dabei verstanden, dass der Täter ein sehr armseliger Junge war. Kein Monster, wie ich gedacht hatte. Nachzufragen hat mir geholfen – um zu verstehen, was da passiert ist. 

Wie Sie bereits angesprochen haben, ist die Angst vor Nachahmungstätern groß. Welche Rolle spielen dabei die Medien? 

Mayer: Täter wollen bekannt werden, denn sie sehen sich selbst als Rächer, als Helden. Journalisten sollten deshalb nicht das Narrativ des Amokläufers übernehmen. Das fängt bei Fotos an, die ihn als jemanden darstellen, der selbst verletzt wurde und sich nun rächt. Denn sich als Mobbingopfer zu beschreiben – so wie es der Täter in Graz laut Berichten tat –, ist Teil einer narzisstischen Störung, die Psychologen bei vielen Amokläufern gefunden haben. 

Wie machen es Journalisten richtig? 

Mayer: Indem sie anderen die Möglichkeit nehmen, den Amokläufer als Helden wahrzunehmen. Indem sie ihn als das zeigen, was er ist: ein feiger Mensch, der gar nicht versteht, was er tut, wenn er tötet. 

Wie haben Sie damals als Angehörige den Umgang mit Journalistinnen und Journalisten erlebt? 

Mayer: Am Anfang sehr schlecht. Medien veröffentlichten Fotos, die ich nicht freigegeben hatte, es wurden teils falsche Dinge geschrieben. Heute ist das anders: die Branche hat gelernt. Überregionale Medien, wie die Süddeutsche oder die Zeit, haben sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie man über Täter berichtet. Die Deutsche Journalistenschule bietet Kurse zum Umgang mit Betroffenen an. 

Sie sind selbst Psychologin und Ethikerin. Welche Projekte haben Sie danach initiiert?

Mayer: Mit dem Verein „Aktionsbündnis Amoklauf“ haben wir dafür gekämpft, mehr Schulpsychologen einzustellen. Damit Lehrer schneller erkennen, wenn ihnen ein Schüler entgleitet. So ein Amoklauf hat eine lange Vorbereitungszeit. Außerdem haben wir versucht – und zum Teil geschafft – die Kontrolle des privaten Waffenbesitzes in Deutschland zu verstärken. Etwa psychologische Untersuchungen zu wiederholen, denn ein Mensch, der mit 18 zuverlässig ist, mag es mit 21 nicht mehr sein. 

Was würden Sie den Angehörigen in Graz raten, um das Geschehen zu verarbeiten? 

Mayer: Was uns an der Schule geholfen hat, war ein Ort, an dem man sich versammeln kann. Die Stadt schuf ein Mahnmal. Bis heute, 16 Jahre später, versammeln wir uns am Jahrestag des Amoklaufs beim Gedenkhaus in der Schule. Das tut sehr gut. 

Und was kann das ganze Land tun? 

Mayer: Sich mit der Tat beschäftigen. Auf der einen Seite nicht vorschnell urteilen. Urteile wie Mobbing muss man sehr differenziert betrachten. Ich würde empfehlen, Forschungsergebnisse etwa aus Deutschland einzuholen. Für Österreich war es vielleicht das erste Mal. Um nicht bei Null anzufangen, sollte man die Erfahrungen nutzen, die andere machen mussten. Denn auch wenn man solche Taten sicher nicht verhindern kann, kann man Vieles tun, um sie für mögliche Nachahmer so schwer wie möglich zu machen und unsere Kinder so gut wie möglich zu schützen. 

Bild von Lina Paulitsch
Ihre Lina Paulitsch

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