Der aktuelle FALTER erzählt schwerpunktmäßig von den letzten Dingen. Womit ich jetzt gar nicht die umfangreiche Berichterstattung zur US-Wahl meine, deren Ausgang der ganzen Welt um die Ohren fliegen könnte. Passend zu Allerheiligen und Allerseelen folgen wir tatsächlich auf sechs Seiten den Spuren des Sensenmanns.
Der Gerichtsmediziner Christian Reiter erklärt, was sich unten in den Gräbern so tut, Anna Goldenberg gratuliert dem Zentralfriedhof zu seinem 150. Geburtstag, begleitet von einer schönen Fotostrecke. Und ich habe eine 25 Songs umfassende Playlist zum Thema "Der Tod im Austropop" zusammengestellt. Zumindest 23 der 25 Lieder können Sie kostenlos hier streamen. Zweckdienliche Hinweise dazu – die sogenannten Linernotes also – sowie die Links zu den zwei fehlenden Liedern finden Sie hier.
1. Wolfgang Ambros: Es lebe der Zentralfriedhof
Als der Zentralfriedhof 1974 seinen hundertsten Geburtstag feierte, dachte sich Joesi Prokopetz "öha!" – und schrieb für seinen Freund Wolfgang Ambros diese Hymne. Sie erschien im Jahr darauf als Titelstück jener Platte, die im klassischen Austropop der 1970er alle anderen überstrahlen sollte. Prokopetz nimmt das mit der Feier wörtlich, er lässt die Toten Party machen und löst ganz nebenbei Konflikte im Diesseits auf: "Es lebe der Zentralfriedhof, die Szene wirkt makaber. Die Pfarrer tanz’n mit den Hurn und Judn mit Araber." Wienerischer als dieser schmissige Ohrwurm geht kaum: Morbidität und Lebensfreude, glücklich vereint.
2. Voodoo Jürgens: Heite grob ma Tote aus
Mit seiner Debütsingle griff Voodoo Jürgens den Vibe von Ambros’ "Zentralfriedhof" 2016 geschickt auf. Diese Garagenpunk-Version eines Wienerlieds feiert nicht das Sterben, sondern das Leben, allerdings – wir sind schließlich in Wien – mit Toten, die durch den Refrain tanzen. Der einstige Friedhofsgärtner Voodoo Jürgens gräbt sie nicht ein, sondern aus.
3. Georg Danzer: Die Moritat vom Frauenmörder Wurm
Lachen über einen Frauenmörder, der in den Straßen Wiens sein Unwesen treibt? Ja, das geht, dieser fidel gereimte Akustik-Schunkler beweist es.
4. EAV: Der Tod
"Der Tod, das muss ein Wiener sein", behauptete der Chansonnier Georg Kreisler einst. Ein Steirer ist er freilich auch. Die Erste Allgemeine Verunsicherung nannte eines ihrer erfolgreichsten Alben "Liebe, Tod und Teufel". Es enthält auch dieses Lied, mit dem Thomas Spitzer, Textchef und kreativer Direkter der Spaßpopband, eindrucksvoll zeigte, wie viel Tiefgang in scheinbarer Blödelei Platz haben. Klassenkämpferische Töne inklusive: "Der Tod ist ein gerechter Mann, ob du arm bist oder reich. G’sturb’n is g’sturb’n‘, sagt der Wurm. „Als Leich’ is jeder gleich!“
5. Ludwig Hirsch: Die Omama
Auf dem Stammersdorfer Friedhof wird die Großmutter begraben, doch dem Enkel fällt das Weinen schwer. Die Gründe erfahren wir schnell, in bösen Reimen zu lieblicher Musik. "Die Omama" eröffnete 1978 das Debütalbum des Schauspielers Ludwig Hirsch, der zum Chefmelancholiker im österreichischen Pop werden sollte. "Dunkelgraue Lieder" lautete der passende Titel der Platte.
6. Wolfgang Ambros: Der Baum
Auf Hochdeutsch sang Ambros nur in Ausnahmefällen. Wie hier in diesem zarten Zweiminüter von seiner ersten Schallplatte aus dem Jahr 1972. Mit leichtem Grusel beschreibt er den Baum vor seinem Fenster, der, frei von Blättern, einem Galgen gleicht und an dem tatsächlich regelmäßig Selbstmörder baumeln.
7. Heller/Qualtinger: Im grünen Wald von Mayerling
Auf recht fidele, dabei aber keineswegs pietätlose Weise besingen André Heller und Helmut Qualtinger das tragische Ende von Kronprinz Rudolf und Baroness Mary Vetsera – und die Schrammeln spielen dazu.
8. Ronnie Urini & Die letzten Poeten: Niemand hilft mir
Auch in der österreichischen Punk- und New-Wave-Kultur treibt der Knochenmann sein Unwesen. Am eindrucksvollsten in dieser Vertonung eines Textes des jung verstorbenen Wiener-Gruppe-Dichters Konrad Bayer. Eine Extraportion Drive trifft auf den Moder aus der Gruft: "Das ist lustig und das ist schön, das ist das Zugrundegehn."
9. Chuzpe: Tote Körper tanzen anders
Dieses Lied fällt unter die Kategorie: Kommt ein Hippie in die New-Wave-Disco und wundert sich. Chuzpe war die beste Wiener Band der Zeit um 1980, und sie hatte auch die besten Songtitel. Zum Beispiel diesen hier.
10. Hotel Morphila Orchester: Stromtod
Die Ära der genialen Dilettanten (die sich eigentlich korrekterweise falsch "Dilletanten" schrieben) erlaubte auch dem Künstler und Theoretiker Peter Weibel eine kurze, aber durchaus erquickliche Popkarriere. "Ich bin tot im Kopf, ich bin krank im Schwanz", hieß es bereits auf der ersten Single "Dead In The Head", einem der besten Lieder seiner Band Hotel Morphila Orchester. In "Stromtod" wandert der Tod gleich direkt durch Weibels primäres Geschlechtsorgan in den Körper, so viel Macho-Quatsch musste offenbar sein. Herrlich aber, wie sich der alte Silbenverschlucker ordentlich aufgekratzt durch den Text sprechsingt.
11. Falco: Out Of The Dark
Was für ein Kitsch. Aber halt schon auch: Was für eine Hymne! "Muss ich sterben, um zu leben?", schlimmer geht es kaum. In Kombination mit dem tragisch frühen Abgang des größten Popsohns Wiens funkeln banale Songtext-Klischees aber plötzlich als dunkle Poesie – und bescherten ihm posthum seinen letzten großen Hit.
12. Sigi Maron: Geh no net furt
Frau verlässt Mann. Herz gebrochen, Leben sinnlos. Also finaler Abgang. Nur hat er die Rechnung bei seinem "Adieu" ohne den guten Freund gemacht, der ihn leblos vorfindet, die Rettung ruft und beschwört: "Geh no net furt, Oida glaub ma, es wird wieder guat!" Wird es nicht, das Happy End bleibt aus.
13. STS: I hab di leben g’sehn
Eine lebenslustige Frau, glücklich und Mutter einer vierjährigen Tochter, verunfallt mit ihrem nagelneuen Auto tödlich. Sie war stocknüchtern und alleine im Wagen, die Straße war trocken, kein Gegenverkehr, ein einziger Baum stand entlang der Strecke. Sie erwischte ihn frontal. Die in den Strophen ausgebreiteten Erinnerungen an diese Frau können die Frage nach dem Warum ihres Todes nicht beantworten. Doch der hymnische Refrain feiert ihr Leben: "I hob die lebn gsegn, so sehr lebn, doss is nie vagiss. Du worst ane von denen, die des kennan: Lebn ohne Kompromiss."
14. Wolfgang Ambros: Gezeichnet fürs Leben
Ein junger Mann wird beim Klauen erwischt. Der Vater ohrfeigt und schimpft ihn. Der Bub möge nur weinen, er sei nun gezeichnet für sein Leben. Der solcherart Gebranntmarkte zieht daraus suizidale Schlüsse, offenbar aus Rache an den herz- und verständnislosen Eltern: "I geh fuat, ganz weit fuat, und irgendwo im Woid, leg i mi ins Moos, mei Bluat wird langsam koid, und eicha Sehnsucht groß, so groß. I wollt leben, nix wia leben, doch i hoit’s net aus, wia’s is, so kann’s ned bleibn, mei Hass is grenzenlos, an Briaf werd i no schreibn. In dem steht: ,Waants nua, es seits gezeichnet fia eicha Lebn, i hob ma ned anders zum helfn gwusst, i hob ma miassn de Kugl gebn.‘" Live noch heute ein absoluter Höhepunkt jedes Ambros-Konzerts mit Band.
15. Ernst Molden: Gemma ens Wossa
Der Wiener Liederschreiber für alle Fälle hat für den Podcast "Klenk+Reiter" 2023 eine schöne Platte mit Liedern übers Sterben gemacht ("Möadanumman"). "Schdrom" wiederum, 2016 erschienen, war ein Auftragswerk für den Nationalpark Donauauen, das auch dieses Schmuckstück enthält: Gemeinsam mit Willi Resetarits besingt Molden vorrangig weibliche Wasserleichen, die eigentlich aber gar nicht tot sind, hat sie der Herrgott doch mit seinem Kescher gefangen.
16. Ludwig Hirsch: I lieg am Ruckn
Aus dem Grab heraus schickt ein Verstorbener eine Botschaft an seine Witwe. Von Einsamkeit erzählt er, der Kälte und Feuchtigkeit da unten und von den Würmern, die ihn anknabbern. Der letzte Liebesgruß ist zugleich eine gefährliche Drohung: "A Hoffnung is noch in mir: Vielleicht tun s’ mi exhumieren? / Dann geh i in d’ Bliah und komm zu dir und hol dich zu mir, damit i net gfrier."
17. Musyl & Joseppa: Ein Freund ging nach Amerika
An sonderbaren Blüten herrscht im Austropop kein Mangel. Das steirische Duo Musyl & Joseppa schillert da noch einmal ganz besonders: Ihr beim Erscheinen 1973 kaum beachtetes Debütalbum "Rozz" zählt zu den abenteuerlustigsten und weltoffensten heimischen Popplatten der 1970er, ihre Vertonung eines Peter-Rosegger-Gedichts wiederum ist einer der Top-Tränendrüsendrücker aus lokalem Anbau. Zuerst erbittet der ausgewanderte Freund Rosen aus der Heimat, um seine Braut zu bekränzen, dann Wasser, um das Kindlein zu taufen. Schließlich trifft ein dritter Brief ein: "Und wieder ein Jahr, da wollte der Freund, ach, noch was anderes haben: Schicke mir Erde aus Steiermark, muss Weib und Kind begraben!" Spotify, dieser löchrige Musik-Käse mit schalem Geschmack, kennt diesen Klassiker nicht; hier können Sie der Sängerin Joseppa beim Wehklagen nicht nur zuhören, sondern auch zuschauen.
18. Wanda: Ich sterbe
"Niente" von 2017 ist das bislang letzte wirklich gelungene Wanda-Album. Mit "Ich sterbe" klingt es in einem selbstmitleidigen Abgesang aus, der anderswo in erbärmlichem Jammerlappentum ertrinken würde. Nicht so bei Marco Wanda, der auf einem frühen späten Höhepunkt seiner Kunst eine glitzergrau schillernde Hymne daraus schafft, den Himmel voller Geigen, das Herz aus Marzipan in Flammen stehend. Glitzergrau schillernd, das geht? Hier schon.
19. Georg Danzer: Lass mi amoi no d’Sunn aufgeh’ segn
Als Meister aller Austro-Liedermacher-Klassen beherrschte Georg Danzer natürlich auch die ernsthafte Beschäftigung mit der Endlichkeit. In diesem wunderschönen Lied aus "Du mi a" von 1976, einer seiner besten Platten, erwachen im Angesicht des nahenden Endes neue Lebensgeister, neue Sehnsüchte: "I gib zua i hab fü Föhla g’mocht. I hab fü zu oft g’want und fü zu sötn g’locht. Owa losst’s mi do ned sterb’n deswegn, na na na, losst’s mi amoi no d’Sunn aufgeh’ segn."
20. Voodoo Jürgens: Federkleid
Wie niemand sonst im österreichischen Gegenwartspop schafft es Voodoo Jürgens, mit wenigen Worten große Geschichten zu erzählen, ganze Biografien in die Länge eines Popsongs zu packen, Atmosphären und Stimmungen zu erzeugen. "Federkleid" von seinem aktuellen Album "Wie die Nocht noch jung wor" erzählt in wunderbaren Metaphern von der Vergänglichkeit. "Und am End is es daunn doch so, dass die Zeit so schnö varennt. Wos bleibt, des is a Vogerl in an schworzen Federkleid."
21. Ludwig Hirsch: Komm großer schwarzer Vogel
Der historische Vorläufer von Voodoo Jürgens’ "Vogerln in an schworzen Federkleid" ist Ludwig Hirschs Todessehnsuchts-Klassiker, der seinem zweiten Album 1979 den Titel gab. "Auf geht’s, großer schwarzer Vogel, auf geht’s! Baba, ihr meine Lieben daham! Du, mei Mädel, und du, Mama, baba! Bitte, vergesst’s mi ned! Auf geht’s, mitten in Himmel eini. Ned traurig sein! Na, na, ist ka Grund zum Traurigsein! Weil, i wer singen, i wer lachen, i wer ,des gibt’s net‘ schrein. I wer endlich kapiern, i werd endlich glücklich sein!"
22. Wolfgang Ambros: Heite drah i mi ham
Georg Danzer hat seinem Freund Wolfgang Ambros zwei Lieder für dessen Meisterwerk "Es lebe der Zentralfriedhof" spendiert. Die besoffene Gute-Laune-Granate "A Gulasch und a Seitl Bier" sowie diese erschütternde, aber halt auch wunderschöne Suizid-Ballade. "Nur a klaner Schnitt und dann is schon passiert, und i gspiar scho, wie ma immer leichter wird. Bluatig rotes Wossa, des is grad a so, wie a Sonnenuntergang in Jesolo."
23. Helmut Qualtinger: Heit bin e ned munta wuan
Als Helmut Qualtinger 1967 zur kargen Musik von Ernst Kölz Texte von H.C. Artmann und Gerhard Rühm vertonte, schuf er damit ein Gründungsdokument für eine genuin österreichische Musiktradition. Doch all die folgenden Jahrzehnte sollte kein Album die erschütternde, durchdringende Härte erreichen von "In tiefer Trauer singt Helmut Qualtinger Schwarze Lieder".
24. Georg Danzer: A letztes Liad
Als er 2006 sein Album "Träumer" aufnahm, wusste Georg Danzer bereits, dass er den Krebs nicht besiegen würde. Man hört es den Songs in keiner Sekunde an. Doch dann kommt, vom Rest durch den Vermerk "Bonus Track" getrennt, "A letztes Liad". Eine schlichte Klavierballade, die den Sensenmann nicht fürchtet, sondern ihm mit festem Blick in die Augen schaut. In seiner tief berührenden Unmittelbarkeit zählt es zu den Highlights in Danzers so reichhaltigem Werk. "A letztes Liad" ist leider ebenfalls nicht in unserer Spotify-basierten Streaming-Playlist enthalten, aber hier zu finden.
25. Voodoo Jürgens: Weh au weh
Am Ende: ein Trauermarsch, der neben dem weinenden, womöglich auch ein lachendes Auge hat, wunderbar mit der Larmoyanz spielt und einige grundlegende Fragen zur letzten großen Party stellt: "Weh, au weh, au weh au weh. Und wer kümmert si um die Kapön, die olle Liada spült, die i so gern g’sungan hob, wer schaufelt ma mei’ Grob?"
Ich hoffe, mein Soundtrack zum verlängerten Wochenende gefällt Ihnen.