Wenn ich – wo ich im Unterschied zu circa 97 Prozent meines Freundes- und Bekanntenkreises schon einmal war – die Seestadt ansteuere, steige ich gerne schon bei Aspern Nord aus.
Diese U2-Station hat die Eigenart, dass man, um auf ebenerdiges Niveau zu gelangen, sich erst ins nächsthöhere Geschoss verfügen muss, um von dort (roll)treppab zum Ausgang zu gelangen.
Seit einiger Zeit ist dieser freilich durch ein Gitter blockiert, sodass man zweimal ums Eck gehen muss, um den Nelson-Mandela-Platz zu betreten, der zurzeit eine einzige Schotterwüste ist. Lediglich rechter Hand findet sich ein kleiner Haufen Asphalt, und ich rätsle seit Wochen, was das alles zu bedeuten hat. Soll der Platz etwa entsiegelt werden? Oder erst recht wieder versiegelt? Und wenn letzteres, warum hat man dann die Überplattung entfernt?
Den Umweg von sechshundert Metern von der Station Aspern Nord bis zum Asperner See nehme ich deswegen gerne in Kauf, weil man dort Haubenlerchen begegnen kann und weil ich Baubrachen generell mag.
Möglicherweise habe ich dieses Wort gerade erfunden, denn das Netz kennt nur die Baubranche, wohingegen der „n"-lose Begriff null Treffer erzielt. Unter Baubrache möchte ich jedenfalls ein brach liegendes Stück Land verstanden wissen, dass für zukünftige Bebauung vorgesehen ist und sich von der Baustelle dadurch unterscheidet, dass es durch keine Absperrbänder, Zäune oder Verbotsschilder begrenzt wird und daher frei betret- und begehbar ist.
Neuerdings endet die Asperner Baubrache bereits am Nordufer des Sees, das jetzt eindeutig eine Baustelle, weil durch Gitter versperrt ist. Und auf dieser gehen ausgesprochen fragwürdige Dinge vor sich, denn dort, wo bis vor kurzem noch Bretterstege und Schotterwege um den See führten, wurden diese durch Wege, Wälle und Wände aus Beton ersetzt.
Ich habe keine Basisaversion gegen Beton, sondern kann diesem auch ästhetisch einiges abgewinnen, wenn er mit Sinn und Verstand zur Anwendung gelangt. Die U2-Station mit ihren ein wenig an Piranesis Carceri d'invenzione erinnernden wuchtigen Spangen ist ein gutes Beispiel, und die nach Plänen von Fritz Gerhard Meyr errichtete „Wotrubakirche" in Mauer oder Josef Lackners Konzilsgedächtniskirche in Lainz sind fraglos beeindruckende Sakralbauten in Sichtbeton.
Der heißt auf Französisch übrigens béton brut, was dem in der Mitte des vorigen Jahrhunderts aufkommenden Baustil des Brutalismus seinen Namen gegeben hat. Im Deutschen wird die diesem Baustoff zugeschriebene Brutalität in idiomatischen Wendungen wie „jemandem Beton geben" oder „eine betonieren" manifest.
Von brutalistischer Architektur im Stile eines Le Corbusier, Paulo Mendes da Rocha oder Alison und Peter Smithson kann in der Seestadt keine Rede sein. Dort wird nicht geklotzt, sondern gekleckert und die Betonmäuerchen werden dann eh mit bunten Bildchen und sinnreichen Sprüchen bemalt. Ob das die Sache besser oder in ihrer kleinmütigen und verdrucksten Art noch schlimmer macht, sei dahingestellt.
Tatsächlich ist man in der Seestadt mit dem HoHo genannten Hybriden Holzhaushochhaus, dessen fantasielose Kubatur samt Camouflagefassade beweist, dass man auch mit diesem Material potthässliche Bauten zu errichten vermag, sogar einen Schritt in Richtung klimagerechte Architektur gegangen.
Umso unlogischer erscheint die Betonieroffensive an der Seepromenade. Ich kann mir diese nur mit dem Horror vacui Viennensis erklären, der Architekten, Stadtplaner und Designer zu dem anankastischen Furor anstiftet, jeden Quadratmeter urbanen Raumes mit einer exakten Gebrauchsanweisung zu versehen, wie dort zu gehen, zu stehen oder zu sitzen sei.
Die bloße Vorstellung einer eigenmächtigen Inbesitznahme der Stadt durch deren Bewoherinnen und Bewohner dürfte den Verantwortlichen die Teufelsfratze der Anarchie vors geistige Auge zaubern: Wiesen könnten betreten, Blumenbeete geplündert, Randsprünge unternommen werden!
Am Ende von Victor Kossakovskys Dokumentarfilm „Architecton", der bereits bei der Viennale gezeigt wurde und nun regulär im Kino läuft, stellt der italienische Architekt und Designer Michele De Lucchi, der den Rest des Films als rauschebärtiger Nachdenklichkeitsdarsteller Steine betatscht und im Scheeregen steht, die Frage, warum wir hässliche Betonbauten mit einer Haltbarkeitsdauer von rund fünfzig Jahren errichten, obwohl wir es seit über zweitausend Jahren besser wissen könnten.
Der Gegensatz zwischen dem toten Baustoff Beton und dem lebendigen Material Stein wird im Film von zerbombten ukrainischen Satellitenstädten und den infolge des Erdbebens vom Februar 2023 eingestürzten Wohnbauten in der türkischen Provinz Hatay auf der einen und der einst im römischen Reich, heute im Libanon situierten Tempelanlage von Baalbek auf der anderen Seite repräsentiert.
Zwischen den in spektakulären Drohnenfahrten inszenierten Architekturaufnahmen, zeigt der Film neben der Auslegung eines programmatisch zweckfreien Steinkreises in De Lucchis Garten weitere Bilder, die man so noch nie gesehen hat. Und selbst wenn man der vom Score Evgueni Galperines auch akustisch adäquat armierten Überwältigungsästhetik von „Architecton" skeptisch gegenübersteht, kann man sich ihr kaum entziehen: die minutenlangen, gestochen scharfen Zeitlupen-Sequenzen von Rolling Stones in Form abgehender Gesteinslawinen oder explodierenden Abraumhalden sind – zumal auf der großen Leinwand – leider geil!