Wochenlang war vor der vorgezogenen Bundestagswahl an diesem 23. Februar geunkt worden, es könne etwas nicht stimmen mit den Meinungsumfragen; die Parteien könnten doch nicht „wie eingemauert“ bei ihren prognostizierten Werten bleiben, obwohl die Stimmung immer aufgeheizter, der Ton immer aggressiver wurde.
Was soll man sagen: Die Meinungsforschung, eine in den vergangenen Jahren exzessiv gescholtene Zunft, hat zur Abwechslung mal weitgehend recht behalten. Vielleicht sind die Wähler aber auch einfach schon zu abgebrüht für zu viel Aufregung und Gebrüll.
Friedrich Merz und die CDU sind jedenfalls, wie vorhergesagt, die Wahlsieger, die Christdemokraten holten mitsamt der bayerischen CSU nach ersten Hochrechnungen etwa 29 Prozent. Die politischen Gegner von Merz auf der Linken hatten bis zuletzt gehofft, ihm eventuell noch ein paar Prozentpünktchen wegschnappen zu können, weil er im Bundestag beim Migrationsthema allzu schamlos mit der in Teilen rechtsextremen AfD geflirtet hatte. Und weil er in seiner Wahlkampfabschlussrede am Samstag in München mit ungewohntem Furor auf Hunderttausende ganz normaler, besorgter, engagierter Bürger losgegangen war, die gegen die AfD und Rassismus auf die Straßen gegangen waren und die er „Grüne und linke Spinner“ nannte, die „nicht alle Tassen im Schrank“ hätten.
Aber sein Kalkül ging auf: Friedrich Merz, die Nemesis von Angela Merkel, der Mann, der seit 20 Jahren Kanzler werden will, hat endlich sein Ziel erreicht. Er wird die Richtlinienkompetenz in der Bundesregierung bekommen und den Ton im Land angeben. Und viele Christdemokraten, die scheinbar schon auf dem Abstellgleis gestanden hatten, machen sich jetzt berechtigte Hoffnungen auf Ministerämter. Es dürfte ein Déjà-vu werden im Bundeskabinett, aus alt mach neu.
So weit, so wenig erstaunlich. Die Grünen stagnieren mit etwa 13 Prozent da, wo sie schon 2021 gestanden hatten; die SPD landete bei 16 Prozent. In beiden Parteien dürften sich deren Chefs über diese Ergebnisse am meisten wundern: SPD-Chef Olaf Scholz, unter dem die Sozialdemokraten auf das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte stürzten, obwohl er doch bis zuletzt überzeugt gewesen war, alles richtig gemacht zu haben.
Er soll geglaubt haben, heißt es, vor einem Comeback zu stehen, das die Meinungsforscher nur leider nicht richtig messen könnten, weil die Wähler klüger sein würden als die Forscher (aber: siehe oben). Scholz ist damit Geschichte. Und die SPD steht inmitten aufziehender Koalitionsverhandlungen und in einer internationalen Krisenzeit vermutlich bald schon in einem neuen Machtkampf um Parteivorsitz und möglichen Vizekanzler-Job.
Auch Grünen-Chef Robert Habeck dürfte sich über das Ergebnis eher wundern als freuen. Er hatte es 2021 nur schwer verwinden können, dass ihm die spätere Außenministerin Annalena Baerbock die Kanzlerkandidatur und die Show stahl. Diesmal war es seine Show, aber die Partei legte nicht zu. Die Grünen kommen mit oder ohne Habeck nicht vom Fleck, und das dürfte schwer an ihm nagen.
Selbst die AfD konnte Wahlforscher und Bürger nicht mehr schocken: Dass die Rechtsextremen ihre Stimmenzahl verdoppeln würden, war erwartet worden. Dass mehrere Terroranschläge in Folge in Deutschland und eine nachgerade hysterische Debatte über Migration und Asyl ihr zusätzliche zögerliche Wähler zutreiben würden, ebenso. Pessimisten hatten sogar vermutet, die AfD würde überraschend davonziehen und bei 25 Prozent liegen.
Nun herrscht – absurd genug – eine gewisse Erleichterung vor: 20 Prozent bundesweit ist viel, aber es ist kein Gamechanger. Regiert werden kann, wenn Einsicht und Kompromissbereitschaft vorherrschen, ohne Rechtsaußen. Deutschland ist nicht unregierbar geworden mit dieser Wahl. Das ist doch schon mal was in diesen Zeiten.
Bleiben die Kleinen. Die FDP ist draußen oder auch nicht. Man kennt das: diese Angst der Liberalen vor der Fünf-Prozent-Hürde. Dass sie es eventuell nicht wieder ins Parlament schaffen würden, war erwartet worden, und es ist nicht weit hergeholt, dass die Schadenfreude über das schlechte Ergebnis für die Liberalen bei den anderen Mitgliedern der im Herbst geplatzten Ampel – bei SPD und Grünen – größer ist als der Schock über den Zuwachs der AfD. An der kann man sich abarbeiten, sie raushalten, gegen sie demonstrieren, sie hassen.
Die FDP hingegen ist eine Wiedergängerin des demokratischen Parteienspektrums: oft nur als Mehrheitsbeschafferin von Relevanz, oft als wirtschafts- oder neoliberale Kraft ein nervensägender Störfaktor für die großen Volksparteien.
2013 waren die Liberalen schon mal aus dem Bundestag gekippt, unter Christian Lindner hatten sie es wieder hineingeschafft. Und nun der Absturz: laut ersten Hochrechnungen von immerhin 11,5 auf etwa fünf Prozent; der Abend wird damit, wie schon so oft in der Parteigeschichte, zur Wackelpartie. Ob Lindner weitermacht, ist fraglich. Er dürfte ein paar schöne, alternative Angebote aus der Wirtschaft haben.
Die Überraschungssiegerin ist die Linkspartei, an der man sehen kann, dass sich das richtige Personal zum richtigen Zeitpunkt massiv auf den Wahlerfolg auswirken kann. Heidi Reichinnek und Jan van Aken führen die Partei erst seit ein paar Monaten, der abgewählte Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow sekundierte im Wahlkampf munter, und zu dritt schaffte die frische Truppe, was ihr keiner zugetraut hatte: das Comeback.
Die Linke war totgesagt gewesen, nachdem ihr irrlichternder Star Sahra Wagenknecht ausgestiegen war und eine eigene Partei gegründet hatte. Aber das One-Trick-Pony Wagenknecht, die außer „es kann nicht so weitergehen in diesem Land“ und „der Westen ist am Krieg in der Ukraine schuld“ wenig zu sagen hatte, hängt, wie die FDP, in ersten Hochrechnungen an der Fünf-Prozent-Hürde und könnte, wenn auch hier die Umfragen recht behalten, sang- und klanglos untergehen. Auch Wagenknecht dürfte der Politik den Rücken kehren. Ihr Bündnis wäre, sollten es die 5 Prozent doch nicht schaffen, damit nach einem knappen Jahr Geschichte, Wagenknecht ist keine Durchhalterin. Die Linkspartei aber triumphiert nach ihrem Abschied; sie ist mit mehr als acht Prozent zurück.
Es ist mithin ein sonderbarer Wahlabend in Berlin, in dem der Begriff „österreichische Verhältnisse“ noch einige Male fallen dürfte: In Österreich ziehen sich die Koalitionsverhandlungen bekanntlich seit September, weil Parteien, die miteinander können sollten, nicht miteinander wollten, nur um am Ende miteinander zu müssen.
Das könnte auch das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 sein – je nachdem, ob die FDP und oder das BSW es noch in den Bundestag schaffen. Kommen die Liberalen wieder mal knapp über die 5-Prozent-Hürde, hätte eine Koalition von Union und SPÖ keine Mehrheit und müssten eventuell mit den Grünen kooperieren, was CDU und CSU bisher kategorisch ausgeschlossen haben.
Eine Floskel, sonst so oft aus Verlegenheit bemüht, wird also wahr: Die Karten werden diesmal tatsächlich erst nach dem amtlichen Endergebnis neu gemischt.