"Extrem ist, wenn man sich über Regeln und Gesetze hinwegsetzt, so als würden sie für einen selbst nicht gelten." So erklärte es der Bundeskanzler der Republik, ÖVP-Chef Karl Nehammer, in seinem umstrittenen Video zum Thema Normalität.
Ist er selbst extrem? Ist es noch normal, wie das Bundeskanzleramt gerade mit der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft um Akten streitet?
Die Vorgeschichte: Als im Herbst 2021 die sogenannte Inseratenaffäre ruchbar wurde (Steuergeld gegen Schlagzeilen), stelle sich die stellvertretende ÖVP-Chefin Gabriela Schwarz vor die Kameras und sagte, die geplanten Razzien im Kanzleramt seien sinnlos, denn es sei ja "nichts mehr da".
Sie hatte Recht, wie die Staatsanwälte später herausfanden. Die engsten Berater von Sebastian Kurz – Gerald Fleischmann und Johannes Frischmann – hatten ihre Smartphones gelöscht.
"Nichts mehr da." Das war bemerkenswert, weil Fleischmann und Frischmann ja offizielle Funktionen innehatten. Der eine war der Sprecher des Kanzlers, der andere stellvertretender Kabinettschef und Leiter der strategischen Kommunikationsplanung. So wie man im Kanzleramt konspirativ Festplatten schreddern konnte, durfte man offenbar auch Handys löschen.
Das ist bemerkenswert, denn die WKStA verdächtigt Kurz und seine Berater, sie hätten, erstens, Steuergeld für Fake-Studien ausgegeben. Und sie hätten, zweitens, mit Steuergeld die Fellner- und Dichand-Presse (Krone, Heute, Österreich) dazu gebracht, ihm, Kurz, das Goderl zu kraulen und politische Mitbewerber schlecht zu machen. Bestechung und Untreue lauten die Vorwürfe, Lügen auf Steuerzahlerkosten.
Zwei Beteiligte haben gestanden: Sabine Beinschab und Thomas Schmid. Es sei Steuergeld geflossen – für die Partei und das Fortkommen von Kurz, so die Vielleicht-Kronzeugen."Lüge!", kontern Kurz & Co. Die WKStA versucht die Geständnisse daher zu verifizieren.
Am 16. August 2022, also vor fast einem Jahr, begehrte sie – da die Handys der Beschuldigten ja allesamt gelöscht waren – die Mail-Server und Festplatten der Abteilung für strategische Kommunikationsplanung. Die WKStA ging schonend vor, sie holte sich die Server nicht mittels Hausdurchsuchungsbefehl, sondern auf die "gelindeste Art", mit einer Sicherstellungsanordnung. Im Finanzministerium hatte die WKStA das ja auch schon mal getan - mit Erfolg.
Warum die WKStA die Daten braucht? Sie hofft, dass es interne Kommunikation gibt, die Schmids Geständnis erhärtet - oder vielleicht sogar entkräftet. Im Finanzministerium etwa stellte die Justiz einen Chat sicher, in dem ein Sprecher von Thomas Schmid genau belehrt wird, wie man sich mit Steuergeld Schlagzeilen kauft.
Nun aber passierte das: Karl Nehammer, Chef des "beschuldigten Verbandes ÖVP", gab in seiner Funktion als Bundeskanzler die Daten des Kanzleramts nicht heraus. Natürlich hatte das nichts damit zu tun, dass Gerald Fleischmann nun zu seinem Spin-Doctor avancierte.
Nehammer trug hehre Argumente vor: Der Sicherstellungsbefehl sei zu unbestimmt, auf den Servern seien doch auch private Daten enthalten. Er brachte daher Rechtsmittel ein.
Das zu Hilfe gerufene Landesgericht für Strafsachen Wien ließ sich von Nehammers weidwendigen Ausfühungen aber nicht überzeugen. Per Beschluss vom Dezember 2022 ordnete das Gericht an, dass das Bundeskanzleramt die Daten herauszurücken habe.
Nehammer brachte nun erneut eine Beschwerde ein, diesmal beim Oberlandesgericht Wien (das den Fall seit Jahresbeginn abliegen lässt). Weil die Beschwerde aber keine aufschiebende Wirkung hat, rückte die WKStA mit höchstem Segen der Justizministerin und der Kripo aus – und holte die Daten ab.
Und nun passiert etwas Erstaunliches: Das Bundeskanzleramt bringt nicht mehr vor, dass die Daten vom Kanzleramt-Server möglicherweise "privat" sein könnten, sondern dass es "nicht auszuschließen sei", dass sie Staatsgeheimnisse enthalten.
Ein Hasenhaken der besonderen Art. Denn seit der BVT-Affäre gibt es ja eine Änderung des Gesetzes: Geheime Informationen fremder Nachrichtendienste, aber auch klassifizierte Infos, die der Geheimschutzordnung des Bundes unterliegen, dürfen von der Staatsanwaltschaft nicht eingesehen werden. Allerdings muss das Kanzleramt genau begründen, wieso die Staatsanwalt die Daten nicht anfassen darf.
Und da wird es jetzt spannend. Wieso ist es "nicht auszuschließen", dass klassifizierte Nachrichten seiner Behörde auf den Servern der PR-Abteilung liegen? Wieso sollten Mitarbeiter, die etwa den Social Media-Account von Kurz betreuten, Staatsgeheimnisse auf ihren Festplatten abspeichern? Und wenn dem so wäre: wurde dann der Informationssicherheitsbeauftragte davon verständigt, wie es das Informationssicherheitsgesetz vorschreibt? Oder ist alles nur eine Schutzbehauptung, um das Verfahren weiter zu verzögern - und dann der WKStA vorzuwerfen, sie brauche so elend lange?
Nein, das ist alles nicht normal. Normal wäre, dass ein Kanzler alles Erdenkliche unternimmt, um die Justiz bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. In Österreich ist das Gegenteil der Fall.