Was sagen Ihnen die Zahlen 181, 165 und 138? Okay, wenn man sie addiert, kommt 484 heraus, eine hübsche symmetrische Zahl, die durch vier teilbar ist, was dann 121 ergibt, also exakt die Anzahl der Tage, die eine Weltreise auf dem Kreuzschiff Costa Delizisoa dauert, schon zu haben um € 16.819,- pro Person (Trinkgeld inbegriffen).
Schön, wenn Sie das herausgefunden haben, die gesuchte Lösung ist allerdings eine andere, nämlich – ganz genau! – die Länge (in Minuten) der Filme „Horizon", „Kinds of Kindness" und – gleichauf! – „Megalopolis" und „Joker. Folie à Deux".
Eine Langspielplatte dauert circa 45 Minuten und ein Spielfilm etwa doppelt so lang, also 90. Das war ein paar Jahrzehnte lang ein Standard, auf den man sich so halbwegs verlassen konnte. Dann kam die CD und hatte auf einmal Platz für 74 Minuten – angeblich, damit sich Beethovens Neunte auf einer Scheibe ausgeht. Leider hatte das dann zur Folge, dass sich auch Musiker und Interpreten, die keine Sinfonie in petto, sondern bloß ihr nächstes Album zu füllen hatten, sich musikalisch auf dem gleichen Platz auszubreiten bemüßigt fühlten. Das hat dazu geführt, dass sehr viele, wenn nicht sogar die meisten CDs „zu lang" sind.
Mit dem Siegeszug der CD geriet auch die Kunstform „Album" in Form in die Krise: Statt A- und B-Seite mit einer Dauer von insgesamt 40 bis 45 Minuten wollten jetzt 70 Minuten bespielt werden, was nicht nur die Aufmerksamkeitsspanne vieler Hörer überfordert, sondern vielfach die Fähigkeit der Interpreten, ein Album durch Auswahl und Abfolge der Stücke dramaturgisch zu gestalten. Die Kulturtechnik des kollektiven, geradezu sakral zelebrierten Schallplattenhörens, wie sie der Free Jazz-Schlagzeuger Günter „Baby" Sommer aus DDR-Zeiten in einem FALTER-Interview erinnerte, war wohl schon davor aus der Mode gekommen.
Dass die Länge einer LP-Seite in etwa auch der eines Sets in einem Jazzklub entspricht, ist vielleicht doch kein Zufall und könnte damit zu tun haben, dass Musik in dieser Zeitspanne von den meisten Zuhörern und Zuhörerinnen ohne allzu große Anstrengung konzentriert rezipiert werden kann. Das heroische Kunstparadigma der Moderne geht allerdings, wie zuletzt Johannes Franzen in seinem äußerst lesenswerten Buch „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten" ausgeführt hat, mit einem Ethos der Überforderung und Zumutung einher: Der Kunstkonsument soll sich gefälligst anstrengen, Arbeit verrichten, gerne auch ein bisschen leiden. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in diesem Zusammenhang von einem „Ekel vor dem Leichten" gesprochen.
Gerade im deutschen Sprachraum verbindet sich das Kunstparadigma gerne mit einem gesellschaftskritischen Anspruch und einer épater la bourgeoisie-Haltung: Das Publikum wird – konservativ und spießig wie es vermutlich ist – schon eine Abreibung verdient haben. Dem kanadischen Film- und Theaterregisseur Robert Lepage hingegen gelingt es, seine bildstarken Theaterstücke der standardgemäßen neuro- und biologischen Grundausstattung der Gattung homo sapiens – Nervenkostüm, Stoffwechselrhythmus und Sitzfleisch – so publikumsfreundlich anzupassen und zu portionieren, dass man auch neunstündige Aufführungen beglückt durchsteht bzw. –sitzt.
Was Kinofilme anbelangt, sind Pinkelpausen und längere Unterbrechungen im Dienste der Nahrungsaufnahme nicht vorgesehen. Bei kluger Getränkewahl und Klogang unmittelbar vor der Aufführung kann man das schon packen. Und abgesehen von der bizarr differenzierten und fast schon wieder charmanten Überlängenbesteuerung, wie sie das Votivkino vor einigen Monaten auf die Spitze getrieben hat (siehe obiges Foto aus dem März dieses Jahres), und die mich als Nonstop-Kino-Abonnement ja gar nicht zu kratzen braucht, habe ich gar nichts gegen lange Filme – so wenig wie gegen lange Romane. Man muss Länge halt nur auch können. Tolstoi und Tarkovskij konnten. „Anna Karenina" (rund 1200 Seiten) und „Andrej Rubljow" (185 Minuten) lasse ich mir gerne gefallen.
Und die schiere Länge allein ist auch gar nicht das Problem. Ein Film wie der grotesk gehypte Romantic Thriller „Love Lies Bleeding" liegt mit seinen 104 Minuten klar diesseits der eingangs erwähnten megalomanen Ausreißer. Vielfach und zum eigenen Nachteil mit „Thelma & Louise" verglichen, mangelt es dem Film, der der nicht einmal eine anständige Verfolgungsjagd hinkriegt, aber an einer brauchbaren und plausiblen Story. Nicht nur die Protagonistin muss ihre Muckis mit Steroiden, der Film selbst muss sich permanent selbst aufpumpen und die Fadenscheinigkeit des Drehbuchs durch eine Abfolge greller Gewaltszenen und special-fx kaschieren.
Die Klage über den Niedergang des Neunzigminüters ist natürlich nicht neu, hat sich längst als eigenes kulturkritisches Genre etabliert. Das Netz ist voll mit Listen der besten Filme unter 90 Minuten. Da möchte ich nicht zurückstehen und auch einen spontanen Vorschlag erstellen – ohne Anspruch auf kanonische Gültigkeit und chronologisch geordnet:
Buster Keaton: „Sherlock jr." (1924) 44 Min.
The Marx Brothers (Leo McCarey): „Duck Soup" (1933) 68 Min.
Preston Sturges: „The Palm Beach Story" (1942) 88 Min.
Joseph H. Lewis: „Gun Crazy" (1950) 87 min.
Charles Laughton: „The Night of the Hunter" (1955) 89 Min.
Bud Boetticher: „Seven Men from Now" (1956) 78 Min.
Robert Bresson: „Mouchette" (1966) 81 Min.
Seijun Suzuki: „Tokyo Drifter" (1966) 83 Min.
Hayao Miyazaki: „Mein Nachbar Totoro" (1988) 86 Min.
Sally Potter: „The Party" (2017) 71 Min.