Wie reagieren Sie, wenn Sie die Parole „Free Palestine“ lesen oder hören? Zustimmend? Verschreckt? Stirnrunzelnd? Achselzuckend? In mir schrillen für gewöhnlich die Alarmglocken. Von wem oder was soll Palästina denn im Sinne der „Free Palestine“ Skandierenden befreit werden, frage ich mich stets. Von der Hamas, ihrem Terror und ihrem erklärten Ziel, den Staat Israel zu vernichten? Oder doch eher den israelischen Truppen, die diese Hamas bekämpfen (dabei aber auch massenhaft Zivilist:innen töten)? Und schwingt im vollmundigen „Free Palestine“ nicht immer ein gewisser Antisemitismus mit?
Gleichzeitig lösen diese Alarmglocken auch Unbehagen in mir aus. Denn natürlich ist es furchtbar, was in Gaza vor sich geht; eine Kommission der Uno spricht inzwischen von „Genozid“. Zudem wüsste ich auch beim besten Willen nicht, warum ich eine rechte bis rechtsradikale Regierung für gut befinden sollte, nur weil diese in Israel an der Macht ist.
Dann wieder halte ich mir Ursache und Wirkung vor Augen – den 7. Oktober 2023 und seine Folgen also – und kann das Bestreben theoretisch verstehen, der Hamas und ihrem Terror möglichst endgültig den Garaus zu machen. Nur praktisch geht es halt nicht in dieser Form, einem zehntausende Opfer fordernden Vernichtungsfeldzug, der längst nur mehr leidlich gedeckt ist durch das Argument „Aber es geht gegen die Hamas!“.
Kräht jemand „Free Palestine“, denke ich trotzdem zuallererst, dass Menschen, die aus dem einstigen Täter-Land Österreich kommen, lieber schweigen sollten, wenn sie schon keine Form (kritischer) Solidarität mit Israel aufbringen können. Und ich wünsche mir, dass Solidarität, unabhängig von der Position, mit Mitgefühl einhergeht.
Wer das Existenzrecht Israels außer Frage stellt und der israelischen Bevölkerung gegenüber solidarisch ist, kann doch auch wahrnehmen, was vorgeht in Gaza und den dortigen Schmerz verstehen. Umgekehrt müsste „Pro Palestine“-Aktivist:innen klar sein, welche Wunden die Geschichte Israels prägen – und dass Kritik an der Regierung Netanjahu nie und nimmer Antisemitismus legitimieren darf.
Nur ist das mit dem Differenzieren und dem umsichtigen Agieren so eine Sache. Daher reagierte auch ich die längste Zeit tendenziell allergisch auf „Free Palestine“. Bis ich kürzlich auf einem Konzert der Wiener Band Buntspecht stand, das ich letztlich nur am Rande mitbekam, weil in meinem Kopf so ein Wirrwarr herrschte.
Buntspecht bin ich als Popkritiker schon sehr früh begegnet. Als sie Anfang 2018 in einem Ottakringer Kellerlokal vor einer Handvoll junger Menschen der Marke „studentisch-alternativ mit buntem Rucksack“ spielten, war ich zwar noch irritiert von ihrem Sound, ihrem Style und ihrem Auftreten; als sie einige Monate später aber ihr eigenwilliges Debütalbum „Großteils Kleinigkeiten“ herausbrachten, war ich bereits interessiert.
Denn dieses Sextett klang und agierte anders als andere Bands aus dem FM4-Kosmos, und es sollte sich dieses „Anders“ auch mit zunehmender Popularität bewahren. Mehr Folk als Indierock, mehr Hippie-Herzlichkeit als Alternative-Coolness, mehr Saxofon, Trompete und Cello als Elektronik, Beats und Hipstersound. Dazu poetische Texte, kluge, zugewandte, interessierte Typen und eine bemerkenswerte Lust, es sich im ungemütlichen Bereich zwischen den Stühlen einzurichten.
Buntspecht haben sich als famose Liveband schnell ein größeres Publikum erspielt, nicht nur in Österreich, sondern vor allem auch in Deutschland. Ihr ausverkauftes Arena-Open-Air bildete einen vorläufigen Höhepunkt. An einem der letzten Sommertage des Jahres hatten sich rund 4.000 Leute an Wiens schönster Open-Air-Location versammelt, gemeinsam mit der Band feierten sie ein – man muss es so kitschig sagen – rauschendes Fest der Liebe.
Ein eindrucksvolles Konzert, und doch fiel mir das Mitfeiern schwer. Als Vorprogramm hatten Buntspecht nämlich die in Berlin lebende palästinensische Musikerin Rasha Navas eingeladen. Nach dem Ende ihres Auftritts riefen die Menschen nicht etwa „Zugabe, Zugabe“, sondern „Free Palestine! Free, free Palestine!“.
Nicht alle, nicht einmal die Mehrheit der Anwesenden, aber doch eine lautstarke Gruppe. Da stand ich also an diesem traditionsreichen linken Ort unter einem übergroßen Transparent mit der Aufschrift „Love Music, Hate Fascism“, hörte diesen Chor, erstarrte – und wollte den Ort des Geschehens eigentlich sofort verlassen.
Dann blieb ich doch noch und erlebte, wie das Buntspecht-Konzert anfing mit den Worten „Heute ist es schön, ja heute ist ein guter Tag“, begleitet von einem lautstarken Publikums-Chor, der bis zum Ende des Konzerts nicht mehr verstummen sollte. Die Irritation wurde dadurch nicht kleiner, und ich schrieb dem Manager der Band eine tendenziell patzige Nachricht. Er antwortete höflich, dass er nach Wochen intensiver Debatten gerade ein wenig müde sei.
Wochenlange intensive Debatten? Ich hatte meinen ausgedehnten Urlaub offenbar gut erwischt und davon nichts mitbekommen. Das Buntspecht-Konzert nutzte ich dann, um einiges nachzulesen. Über die just durch die FPÖ erstrittene Absage des Wien-Konzerts einer irischen Rap-Gruppe, die besonders laut (und durchaus auch unverhohlen antisemitisch gestimmt) „Pro Palestine“ plärrt; über eine darauf folgendes „Pro Palestine“-Benefizveranstaltung, die zwar eine schwammige Botschaft hatte, aber von vielen österreichischen Pop-Acts unterstützt wurde, darunter auch den beiden Köpfen von Buntspecht; über die Tatsache, dass in der Welt von Social Media, die ich aus Rücksicht auf meine psychische Gesundheit seit je her meide, die Fetzen fliegen zwischen alten und jungen Linken, ausgelöst durch den Krieg in Gaza.
Ich begann zu grübeln, ob Typen wie ich nicht bisweilen zu hart urteilen und womöglich auch ohne Social Media zu schnell sind darin, jene jungen Menschen verbal abzuwatschen, die den hochkomplexen Nahostkonflikt in 15 Sekunden erklären wollen und zum Schluss kommen, ohne Wenn und Aber „Solidarität mit Palästina“ vertreten und Israel kritisieren zu müssen. Dann wieder grübelte ich über das Grübeln. Plötzlich stand der Buntspecht-Manager neben mir und erzählte, welche Spur der Verwüstung die zwei Jahre seit dem 7. Oktober unter anderem auch durch die deutsche Kulturwelt gezogen haben.
Hier die mit Israel Solidarischen, dort die „Free Palestine“-Aktivist:innen – und dazwischen vielfach kein Raum für Debatten, sondern nur Verhärtung und Boykotte bis hart an die Grenze des Existenzgefährdenden. Weil junge Bands, die eine „Pro Palestine“-Haltung vertreten, nicht mehr an Orten spielen, die ihnen politisch nicht genehm sind – auch wenn diese Orte teils seit Jahrzehnten bestehende Bastionen der Alternativkultur und des linken Aktivismus sind.
Und er erzählte mir vom intensiven Austausch, den er selbst mit seinen Künstler:innen – darunter eben auch Buntspecht – pflege und dass gerade Buntspecht ihrerseits wiederum die Diskussion mit Veranstalter:innen führen würden, die eine andere Meinung vertreten, anstatt einfach ins Canceln und Boykottieren einzustimmen.
Am Ende des Konzerts wirkten sehr viele Menschen sehr glücklich. Ich war müde vom vielen Grübeln, ging aber mit dem Vorsatz nach Hause, dass es gewiss besser sei, ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben, als schnell zu urteilen und Positionen als unverrückbar anzusehen. Auch wenn bei mir weiterhin die Alarmglocken schrillen, sobald ich „Free Palestine“ höre.
Schönen Abend,