✍Es gibt einen Schnellzug von Tel Aviv nach Jerusalem. Er ist relativ neu, verbindet die beiden großen Metropolen des Landes erst seit 2019. Es dauert nur noch knappe 40 Minuten, um von der lebhaften weißen Stadt am Meer in die offizielle Hauptstadt Israels zu gelangen. Es ist trotz der kurzen Zeitspanne eine Zeitreise. Oder Weltenreise. Die weiße Stadt, wie Tel Aviv vor Hundert Jahren bei ihrer Entstehung wegen der …
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Guten Abend Peter Rabl!
Die Philharmonie in Tel Aviv, einmal mit der Aufschrift "Bring them Home" und einmal mit der Aufschrift "Welcome Back Home"
Die Philharmonie in Tel Aviv vor und am 13. Oktober 2025 (Screenshot: Instagram | /©israel_philharmonic)

Es gibt einen Schnellzug von Tel Aviv nach Jerusalem. Er ist relativ neu, verbindet die beiden großen Metropolen des Landes erst seit 2019. Es dauert nur noch knappe 40 Minuten, um von der lebhaften weißen Stadt am Meer in die offizielle Hauptstadt Israels zu gelangen. Es ist trotz der kurzen Zeitspanne eine Zeitreise. Oder Weltenreise.

Die weiße Stadt, wie Tel Aviv vor Hundert Jahren bei ihrer Entstehung wegen der vielen weißen Bauhaus-Projekte genannt wurde, ist eine Welt für sich. Seit zwei Jahren haben sich hier vor dem Tel-Aviv-Museum die Tel Aviver getroffen, um "Bring them home!" zu rufen. Die Solidarität für die Geiseln, die am 7. Oktober von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurde, einte die Protestbewegung gegen den Rechtsruck in Israel zwei Jahre lang.

Am Montagmorgen ist der Hostage-Square wieder knallvoll, die Emotion steht auf 10 von 10: "Sie sind wieder da!", rufen die Leute im Chor. Auf großen Screens verfolgen bewegte Israelis die Heimkehr der letzten 20 lebenden Geiseln. Sie tanzen, stundenlang. Ein Freudentaumel. Rundum ragen neue Wolkenkratzer in den Himmel, die vom Wohlstand der sogenannten Startup-Nation zeugen. Hippies und Hightechies, das ist Tel Aviv.

Am Bahnhof steigt man im T-Shirt in den Zug, alles andere ist in dieser südmediterranen Stadt auch im Herbst zu heiß. Oben in Jerusalem aber kommt man im Herbst an. Nicht nur das Wetter, das Klima insgesamt ist hier am Berg – 754 Meter über dem Meeresspiegel – grundsätzlich anders. An der Bushaltestelle Richtung Innenstadt stehen mehrheitlich ultraorthodoxe Männer, Frauen und viele Kinder, die sich in überfüllte Busse zwängen. Die Fahrer endlos geduldig, auch wenn die Türen oft lange nicht zugehen.

Die enorme Vielfalt der orthodoxen Gewänder, vor allem die der Frauen, ist eine Augenweide. Vor allem im Vergleich zur Tel Aviver Tracht – Hotpants und Spaghettitop – ist ja auch viel Stoff involviert, der mindestens von unter den Knien bis über die Ellenbogen reichen muss. Aber auch so mancher Streimel, der Pelzhut der chassidischen religiösen Juden, würde fast überall auf der Welt – den 2. Bezirk Wiens vielleicht ausgenommen - schon ziemliche Aufmerksamkeit erregen: Wer trägt in einem an sich modernen Staat den Kopfschmuck des polnischen 18. Jahrhunderts spazieren? Und das an einem Arbeitstag! Aber in Jerusalem an der Bushaltestelle, da tragen sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

Israel ist ein gespaltenes Land. Nicht nur zwischen Israelis und Palästinenser:innen, die beide um einen Staat im historischen Palästina kämpfen. Auch zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Zwischen weltoffenen und ultrareligiösen Jüd:innen. Dass angesichts dieser Widersprüche überhaupt so etwas wie eine israelische Nation gewachsen ist, gleicht einem Wunder.

Eben dieses wird jetzt aufs Spiel gesetzt. Die dritte Spaltung ist vielleicht die gefährlichste für die Demokratie Israels. Der Staat von zehn Millionen Menschen – 21 Prozent davon sind Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft – ist zumindest für die jüdische Bevölkerung bisher demokratisch verfasst. Die Einbindung rechtsradikaler Kräfte in die Regierung, droht allerdings, den Rechtsstaat zu kippen.

Wenn der Finanzminister ein rechtsextremer Siedler ist, fließt viel Geld ins Westjordanland. Nicht in arabische Dörfer. Sondern in israelische Siedlungen. Wenn der Sicherheitsminister ein rechtsextremer Siedler ist, dann kann die ihm gleichgesinnte Siedlerjugend ungestraft in palästinensischen Dörfern Angst und Schrecken verbreiten. Der Regierungschef versucht, die Grundpfeiler des Staates zu schwächen: die unabhängigen Gerichte und das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Der 7. Oktober hat diesen Prozess der Polarisierung und Radikalisierung noch beschleunigt. Das kollektive Trauma des Hamas-Angriffs vor zwei Jahren verstärkt die Hoffnungslosigkeit in Israel über die kaum zu überwindenden Widersprüche. Diese Frustration hat sich längst auch auf Europa ausgebreitet, das mit Sorge auf Israel und die palästinensischen Gebiete blickt. Wie soll man mit zwei sich so erbittert bekämpfenden Streitparteien umgehen?

Die Radikalisierung Israels stellt alles infrage, was die europäischen Partnerstaaten in die einzige Demokratie des Nahen Ostens investiert haben. Dass aus Palästina bisher nichts geworden ist und eine islamistische Bande Gaza regiert, schmerzt ebenfalls. Deshalb ist alles, was auch nur im Entferntesten nach Frieden aussieht, eben auch für Europa so wichtig.

Und darum atmen an diesem Montag, der gerade zu Ende geht, alle erleichtert auf. Nicht nur die Eltern der Heimkehrer schließen die Söhne heute in die Arme, die ganze Nation steht um sie herum. Auf der Philharmonie in Tel Aviv werden am Dach Buchstaben ausgewechselt. Zwei Jahre lang stand hier "Bring them Home". Jetzt erscheint dort: "Welcome Back Home".

Die Rückkehr der israelischen Geiseln aus dem Gazastreifen lässt ein bisschen Hoffnung sprießen. Es war höchste Zeit, dass endlich keine Bomben mehr auf die ausgemergelte Zivilbevölkerung in Gaza regnen. Erste Hilfslieferungen sind allerdings nur Tropfen, die auf einen sehr trockenen Landstrich fallen.

Der Montag ist auch der Tag der großen Trump-Show. "Thank you Trump!" skandiert die Menge am Hostage-Square in Tel Aviv. Auch in Gaza jubeln die Leute Donald Trump zu. Ausgerechnet jener US-Präsident, der in Amerika alle demokratischen Grundsätze über Bord wirft, bringt nach zwei Jahren Katastrophe im Nahen Osten – zumindest kurzfristig – die Waffen zum Schweigen. Ein Paradox.

Jerusalem ist an diesem Montag um das Parlament weiträumig abgesperrt. Für den Star des Tages werden keine Mühen gescheut. In der Knesset, dem israelischen Parlament, spricht Donald Trump über einen "historischen Frieden", den er angeordnet habe. Dann fährt er zu einem "Friedensgipfel" weiter nach Ägypten – allerdings sind dort weder Israel noch Hamas vertreten. Ob er seine Aufmerksamkeit in den kommenden Monaten dem extrem komplizierten Nahostkonflikt weiter widmen wird, bleibt abzuwarten.

Doch an diesem Tag gebührt ihm Dank. Für ein paar Stunden ist die Erleichterung hier größer als die Angst, dass es wieder nichts wird mit dem Frieden. Im kommenden FALTER können Sie meine Reportage über diese Stunden lesen. Über dieses verletzte Land mit seinen viele Wunden.

Schalom, Salam und auch sonst einen schönen Abend wünscht aus Jerusalem,

Bild von Tessa Szyszkowitz
Ihre Tessa Szyszkowitz

Heute für Sie auf falter.at:

Diese drei Texte wurden vergangene Woche auf unserer Website am häufigsten gelesen:

Florian Klenk hat sich von Richterin Christina Salzborn, der Sprecherin des Wiener Landesgerichts, erklären lassen, wie das wohl umstrittenste Gerichtsurteil der vergangenen Jahre zustande gekommen ist: Der Freispruch für zehn Burschen, die sich immer wieder an einem zwölfjährigen Mädchen vergriffen haben.

Armin Thurnher zürnt der ÖVP für ihren Umgang mit August Wöginger, der für einen Postenschacher vor Gericht mit einer Diversion davongekommen ist. Der Partei fiel dazu nichts Besseres ein als eine Gratulation und die Feststellung, damit sei der Fall erledigt. “Was Wöginger und die Seinen offenbar nicht sehen, ist der Schaden, den er mit seinem Verhalten dem Ansehen der politischen Klasse und der Demokratie insgesamt zufügt”, schreibt Thurnher.

Und über noch etwas hat sich Thurnher vergangene Woche geärgert: Die TV-Debatte über den Gaza-Krieg, für die der ORF niemanden anderen aufbieten konnte als den ehemaligen ÖVP-Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka, ein “One-Trick-Pony des Anti-Antisemitismus” – und den “sprechgewandten, aber nicht immer bei Trost befindlichen Rafael Eisler, einen Aktivisten, aber keinen Aktivposten”. Thurnhers Tirade finden Sie hier.

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Wer sind die Geiseln?

Sie wachten im Kibbuz auf, sie tanzten auf dem Nova-Festival, einer hat als Sicherheitsmann eben dort andere vor dem Angriff der Hamas gerettet, bevor er selbst entführt wurde. Das sind die Rückkehrer vom 13. Oktober.


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