Immer mal wieder hängt Hermann Knoflacher, 83, sich sein „Gehzeug” um – einen groben Holzrahmen, so groß wie ein Auto (siehe Foto) – und spaziert damit durch die Straßen. Manche lächeln ihn dann an und fotografieren ihn, manche regen sich aber auf, dass da ein Mann so viel Platz für sich allein beansprucht. Würde derselbe Mensch dagegen „in einer Metallkapsel kauern”, wie der emeritierte TU-Professor es nennt, wäre das selbstverständlich.
Wie so vieles andere, das mit Vernunft nicht zu erklären ist – das zeigt Knoflacher in seinem frisch überarbeiteten Buch „Virus Auto 4.0” auf. (Ein Video von Florian Klenk dazu finden Sie hier, ein Interview mit dem Verkehrsexperten hier.)
Ähnlich achselzuckend nehmen wir Unfallnachrichten hin. 396 Menschen sind im Vorjahr in Österreich im Straßenverkehr ums Leben gekommen, darunter sieben Kinder. Allein in den ersten zwei Wochen des neuen Jahres starben sieben Menschen, drei davon Fußgänger. Mehrere Tragödien also, kaum ist das Jahr gestartet. Die „leichteren” Unfälle, bei denen es „nur” Verletzte und Schwerverletzte gibt, registrieren wir ohnehin kaum.
Bei den tödlichen Unfällen waren zuletzt mehrere sehr junge Autolenker die Verursacher, eine ist erst neunzehn – eine schwere Bürde, die die Jugendlichen nun für den Rest ihres Lebens alleine tragen müssen. Kaum eine Debatte wert sind auch die vielen Minderjährigen, die mit ihren Mopeds und E-Scootern gegenüber zwei Tonnen und mehr schweren Autos immer den Kürzeren ziehen. All das behandeln wir als Naturgesetz. Schiach! Aber kannst nix machen.
Mit welcher Macht der Autoverkehr sich gegen andere Trends stemmt, ist an der Treibhausgasbilanz abzulesen. Im Jahr 2022 sind Österreichs Emissionen erfreulicherweise erstmals gesunken, und das auch im Verkehr. Allerdings ist er der einzige Sektor, der nach wie vor mehr Emissionen ausstößt als im Jahr 1990.
Alle anderen – die Industrie und die Energiebranche, die Landwirtschaft, Gebäude und Abfallwirtschaft – haben eine Wende zustande gebracht. Der Verkehr aber bläst immer noch um sage und schreibe die Hälfte mehr an Treibhausgasen raus.
Tempo 100 auf Autobahnen wäre dabei nicht nur für das Klima eine einfache und höchst effiziente Maßnahme, sondern würde auch viel Sprit und damit Geld sparen. Dennoch lehnt sie die Mehrheit der Bevölkerung ab.
Immerhin ein Lichtblick ist die neue Straßenverkehrsordnung (StVO), mit der Gemeinden leichter Tempo 30 verordnen können. Damit gäbe es sowohl weniger Dreck als auch weniger (schwere) Unfälle. Aber schon heißt es: Damit wollen sich die Gemeinden bloß ein Körberlgeld verschaffen! In Wahrheit gibt es in den bestehenden 30er-Zonen kaum Kontrollen: Das Kuratorium für Verkehrssicherheit hat 2023 eineinhalb Millionen Geschwindigkeitsmessungen in Tempo 30-Zonen durchgeführt. Ergebnis: 72 Prozent halten sich nicht daran.
Dass die gebaute Realität mit Rationalität nichts mehr zu tun hat, das zeigt der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher seit fünf Jahrzehnten auf. Sein 2009 erstmals erschienenes Buch “Virus Auto” hat er soeben komplett überarbeitet: Es ist kompromisslos, böse und höchst erfrischend.
Das Auto vergleicht er dabei mit einem ansteckenden Virus, das direkt aufs Stammhirn der Menschen ziele. „Unsere Vernunft, beruhend auf den 0,1 bis 0,2 PS unserer menschlichen Fußgängermobilität, verliert durch die Hunderte von PS eines Pkw, mit dem wir zu einem Überwesen mit übermenschlichen Ansprüchen verschmelzen, mit Begeisterung den Bodenkontakt.”
Von den ersten Nutznießern in die Gesellschaft eingeschleust, habe das Virus „in kürzester Zeit alle entscheidenden Punkte zur Steuerung der Prozesse seiner eigenen Vermehrung” besetzt – und die Menschen dazu gebracht, alles dem Wohlergehen des Autos unterzuordnen. „Obwohl er natürlich der Meinung ist, er bestimme über die Gestaltung des Umfelds nach seinen Vorstellungen.”
Wie wären sonst all die Folgen zu erklären? Dass das Auto einen Großteil des öffentlichen Raums beansprucht? Darunter Abstellplätze „vielfach noch ohne Gegenleistung” – eine Aneignung allgemeinen Eigentums, die für das Primärbedürfnis Wohnen mitnichten toleriert wird.
Straßen wurden zu Gefahrenzonen, Bürger auf Steige verbannt, „gefährlichen Gebirgspfaden nicht unähnlich”. Kinder lernen von klein auf, wie man sich autogerecht zu verhalten habe.
Dabei sei Autofahren in der Stadt doch meist nichts anderes als „stockende Fortbewegung und sitzendes Warten in einer Abgaswolke mit Blick auf die Rückseite der Vorderfahrzeuge”. Dörfer seien zu „Leichen” geworden, weil um die Kreisverkehre herum ständig neue Gewerbegebiete und Einkaufszentren gebaut werden, die die Kaufkraft absaugen. Indem „Hasenfüße” in den Regierungen all dies forcierten, regierten sie in Wahrheit gegen die Bevölkerung. Tatsächlich sei diese schon weiter als manche Experten und die Politik.
Wer sonst traut sich all das so zu sagen? Freilich hat Knoflacher eines oft genug erfahren: „dass jede nicht zärtliche oder respektvolle Erwähnung des Autos als Angriff auf die Persönlichkeit des Fahrzeughalters empfunden wird.”