Warum Wien einer 13-Jährigen mit einer Millionenklage droht

Rathaus stellt Stadtstraßen-Gegnern in Anwaltsbriefen horrende Schadenersatzklagen in Aussicht – auch Kindern und Jugendlichen.

Martin Staudinger, Soraya Pechtl
vom 13.12.2021

In den vergangenen Tagen erhielten Stadtstraßen-Aktivistinnen und -aktivisten beunruhigende Post – darunter auch die 13-jährige Tina (Name von der Redaktion geändert). Die Rathausregierung droht ihnen mit horrenden Schadenersatzforderungen.

Gespräche mit den Baustellenbesetzern hätten nichts gebracht, behauptet die SPÖ: Allerdings gab es in all den Monaten nur zwei Termine mit Mitarbeitern der Stadtverwaltung und einer Sprecherin der MA 28. Die Spitzenpolitiker des Roten Wien haben sich nicht dazu herabgelassen, selbst mit den Aktivistinnen und Aktivisten zu kommunizieren. Bürgermeister Michael Ludwig wies im FALTER-Interview vor wenigen Wochen die Idee, eines der Protestcamps zu besuchen, geradezu empört zurück: „Na, mit Sicherheit nicht!“

Jetzt schickt die Partei also Anwaltsbriefe: Verfasst wurden sie ausgerechnet von der Kanzlei des ehemaligen SPÖ-Abgeordneten und Justizsprechers Hannes Jarolim.

Der Vorwurf gegen die Stadtstraßen-Besetzer lautet, sie hätten durch die Behinderung der Bauarbeiten „immens hohe Schäden” verursacht. „Nach der höchstgerichtlichen Rechtssprechung besteht eine solidarische Haftung sämtlicher beteiligter Aktivist*innen für den gesamten Schaden. Sofern die Behinderung der Bauführung nicht umgehend und vollständig beendet wird, ist die Stadt Wien gezwungen sämtliche ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Schritte einzuleiten, um die entstandenen Schäden einzufordern”, heißt es in dem Schreiben.

Und weiter: Die Stadt sei durch eine Umweltverträglichkeitsprüfung für den neuen Stadtteil Seestadt dazu „gezwungen”, die Stadtstraße zu bauen. Und es habe bereits „zahlreiche Beschwerden über das Verhalten der Aktivist*innen und dessen unmittelbare Auswirkungen auf die in der Umgebung ansässigen Familien” gegeben – und das bei einem Camp, das mehr als hundert Meter vom nächsten Wohnhaus entfernt ist.

Das Schreiben ging an zahlreiche Organisationen und Initiativen. Aber auch an Tina und ein weiteres, 14-jähriges Mädchen – die beiden engagieren sich im Jugendrat. Wie die Kanzlei zu ihren Namen und Daten gekommen ist, kann Stadtstraßen-Aktivistin Lena Schilling nicht nachvollziehen; was sie tatsächlich angestellt haben sollen, ebensowenig. Tina ist jedenfalls geschockt: „Es darf nicht sein, dass ich Drohungen von der Stadt Wien bekomme, nur weil ich eine Zukunft haben will“, sagt sie.

Angeschrieben wurden auch Einzelpersonen, die sich zwar öffentlich gegen das Projekt Stadtstraße ausgesprochen, eigenen Aussagen zufolge aber nie an der Besetzung oder Protestaktionen teilgenommen haben: „Heute kam vom Anwalt Jarolim die ,Aufforderung zur Beendigung der Behinderung der Bauführung‘. (…) Ojeoje, und das alles wegen ein bisserl twittern„, schreibt etwa Filmemacher Daniel Bleninger.

Inzwischen dürften die SPÖ und die Kanzlei Jarolim erkannt haben, was sie mit den Schreiben ausgelöst haben und nach einem gesichtswahrenden Ausweg suchen.

Bisher hatten Bürgermeister Michael Ludwig und Verkehrsstadträtin Ulli Sima stets betont, gegenüber den Klimaaktivisten auf Gespräche setzen zu wollen. Dass die Stadtregierung jetzt mit Klagen droht, stößt auf breite Kritik.

  • „Ludwig will uns mit diesem drastischen Schritt mundtot machen. Das ist ein Skandal!,” sagt Lucia Steinwender von System Change not ClimateChange, einer der Organisationen, die einen Brief erhalten haben.

  • „Gerade am Tag der Menschenrechte einen solchen Rundum-Schlag gegen die Zivilgesellschaft zu setzen ist ein demokratiepolitsch verheerendes Vorgehen und widerstrebt jeder konstruktiven Lösungsfindung“, kritisiert Südwind-Geschäftsführer Konrad Rehling.

  • „Mit diesem Angriff auf Klimabewegung, Zivilgesellschaft und Demokratie hat Bürgermeister Ludwig eine rote Linie überschritten. Er muss seinen Eskalationskurs sofort stoppen und sämtliche Klagsdrohungen umgehend zurückzuziehen”, fordert Alexander Egit, Geschäftsführer von Greenpeace.

  • Hinter die Aktivisten stellen sich auch die Grünen: „In hunderten Städten der Welt wird die junge Klimabewegung unterstützt, Vertreter:innen zum Dialog eingeladen. Unter Bürgermeister Ludwig wird in Wien die gleiche Bewegung mit Klagen bedroht. Erneut zeigt sich hier, dass die SPÖ in Sachen Klimaschutz auf der falschen Seite der Geschichte steht“, so der Landesparteivorsitzende Peter Kraus.

Die Aktivisten wollen die Besetzung der Baustellen jedenfalls fortsetzen.

Inzwischen haben Twitter-Accounts aus dem Umfeld der Sozialdemokraten auch damit begonnen, die Stadtstraßen-Proteste zu diskreditieren. Die Besetzer würden sozialen Wohnbau für tausende Menschen verhindern, heißt es dort beispielsweise. Und: Die gesamte Aktion sei bloß das Freizeitvergnügen einer wohlstandsverwöhnten Jugendelite, die nicht einmal mitkriege, dass sie von den Grünen und den NGOs instrumentalisiert wird. Jetzt würden die Schnösel endlich mal merken, dass illegale Demonstranten eben mit Konsequenzen rechnen müssen.

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