Johnny Cash, Elton John, Amy Winehouse, Freddie Mercury, Bob Dylan und viele andere waren schon dran. Nun hat auch Bruce Springsteen sein Biopic, einen Film also, der auf Fakten basierend aus seinem Leben erzählt. „Springsteen – Deliver Me From Nowhere“ von US-Regisseur Scott Cooper, ab morgen Donnerstag in den Kinos, ist jedoch keine dieser heroischen Rock- und Pop-Erzählungen, glänzend und funkelnd. Das würde auch nicht passen zum Mann aus New Jersey, der zwar zu den größten Rockstars (und Liederschreibern) der Welt zählt, aber immer ein Zerrissener geblieben ist.
Meine Frau liebt den „Boss“ schon seit den Achtzigerjahren, meine jüngere Tochter, seit sie 2019 den entzückenden Kinofilm „Blinded By The Light“ gesehen hat, eine britische Coming-of-Age-Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht und der lebensverändernden Kraft von Springsteens Musik ein gleichermaßen unterhaltsames wie rührendes Denkmal setzt. Am 18. Juli 2023 standen wir dann alle drei relativ nahe an der Bühne, um Bruce Springsteen & The E Street Band gemeinsam live zu sehen.
Meine Frau hatte Tränen in den Augen, als der Sänger die Bühne betrat, so ergriffen war sie, noch vor dem ersten Ton, von seiner schieren Präsenz. Meine Tochter und ich brüllten Textpassagen mit, die nichts mit unseren eigenen Leben zu tun haben und uns doch so viel bedeuten; zu dritt erlebten wir einen einzigen dreistündigen Glückstaumel.
Meine Tochter war damals 18, nach dem Ende des Konzerts funkelten ihre Augen, alles an ihr strahlte. Klingt kitschig? Keine Sorge, die Erklärung von Springsteens Magie kommt erst. „Ich konnte letzte Nacht überhaupt nicht schlafen, obwohl ich erst spät heimgekommen bin“, erzählte meine Tochter tags darauf. „Das Konzert hat mich emotional derart aufgewühlt, und ich war viel zu euphorisiert davon, es hat noch Stunden danach in mir weitergearbeitet.“
Einige Wochen später traf ich eine Wiener Musikerin, mit der ich auch privat gern ein Schwätzchen halte. Sie selbst ist in Bob Dylan vernarrt; weil sie aber um meine Leidenschaft für Springsteen weiß, erzählte sie mir, dass ihr 81-jähriger Vater ebenfalls beim Konzert gewesen sei. Irgendwo weit weg von der Bühne, auf einem Sitzplatz. Ein weltoffener konservativer Mensch, der auf ein ereignisreiches Leben zurückblickt und bei der Vielfalt seiner kulturellen Interessen eben auch für Springsteen Platz hat.
Ob es ihm gefallen habe, fragte ich. Gefallen sei das falsche Wort, antwortete sie. Ihr Vater habe die Nacht nach dem Konzert kein Auge zugetan; Springsteen habe ihn derart aufgewühlt, dass die Kraft der Lieder und die Emotionen des Konzerts schlafraubend weiterwirkten. Wie schön, dachte ich: Durch seine einzigartige Präsenz und seine bei aller Schlichtheit doch so besonderen Lieder schafft es Springsteen in einem Fußballstadion vor 55.000 Menschen, die 18-Jährige direkt vor der Bühne ebenso intensiv und nachhaltig anzusprechen wie den 81-Jährigen irgendwo hinten auf den Rängen.
Die Diskografie des Musikers ist mit Meisterwerken gespickt, enthält aber auch allerlei Mediokres. Live aber ist er seit über 50 Jahren eine Macht. Völlig frei von Effekten verlässt er sich einzig auf die Wirkung seiner Musik, und es gelingt ihm dabei, das Gefühl zu vermitteln, er würde jede einzelne Person in dieser anonymen Masse direkt ansprechen, für die Dauer des Konzerts zu allen in einer engen Beziehung stehen.
Springsteen verkörpert auf der Bühne das Gegenteil von Bob Dylan. Ist der ewige Songwriter-Gott – dem der junge Kollege in den frühen Siebzigern glücklicherweise nur zwei Alben lang nacheiferte, bevor er seine eigene Sprache fand – ein hermetisches Wesen, das scheinbar ausschließlich für sich selbst spielt und an Interaktionen mit dem Publikum kein Interesse hat, sorgt sein Nachfolger als Größter unter den amerikanischen Liederschreibern für temporäre Gemeinschaften und kollektive Glücksmomente.
Er erzählt aus seinem Leben, scherzt, klatscht mit den Menschen vor der Bühne ab, schenkt einem Kind im Publikum seine Mundharmonika, hält Plädoyers für Menschlichkeit, Solidarität und Rücksichtnahme – und bei Bedarf äußert er sich auch unmissverständlich zum Präsidenten seines Landes. Spielt er dann wieder Musik, agiert er in einer eigenen Liga – egal, ob es einer seiner Klassiker oder eine vergessene Single-B-Seite ist.
Springsteens Geheimnis ist die Ambivalenz, die schier unversöhnlichen Kräfte von gleißendem Licht und starker Dunkelheit, die in ihm wirken. Er, der von der Bühne aus Millionen Menschen mit positiver Energie versorgt, leidet sein ganzes Erwachsenenleben lang schon an schweren Depressionen, und genau hier setzt der neue Film an.
Basierend auf „Deliver Me From Nowhere: The Making Of Bruce Springsteen’s Nebraska“, einem Buch des US-Journalisten Warren Zanes, erzählt er die Entstehungsgeschichte des Albums „Nebraska“ von 1982. Anfang dreißig nahm Springsteen – gebeutelt von den Dämonen seiner Kindheit mit gewalttätigem Alkoholiker-Vater und dauerbesorgter Mutter – dieses Meisterwerk alleine daheim im Schlafzimmer auf, roh, minimalistisch und unprofessionell; die Texte geprägt von Düsternis, Schmerz und Verlust.
Es sollte zur einzigen Homerecording-Platte der Popgeschichte werden, die in den Top drei der US-Verkaufscharts landet; es sollte den Boden bereiten für Springsteens Weg zum globalen Superstar, denn auch später veröffentlichte Welthits wie „Born In The U.S.A.“ entstanden in jenen Tagen; und es sollte den von Depression und Angstzuständen schwer gezeichneten Springsteen erstmals dazu bringen, professionelle Hilfe zu suchen.
All das erzählt der Film ruhig und ohne allzu viel dramaturgisches Schnickschnack, begleitet von einer fiktiven Liebesgeschichte mit einer Kellnerin sowie einer echten – jener zwischen dem Künstler und seinem kühl-analytischen, dabei aber stets loyalen und umsichtigen Manager Jon Landau. Jeremy Allen White, bekannt aus den Serien „Shameless“ und „The Bear“, verkörpert Bruce Springsteen glaubhaft und würdig, auch die Lieder des Meisters singt er mehr als passabel selbst.
Der Fokus liegt nicht auf dem Rockstar, sondern auf einem gequälten Menschen, dessen Leid aber weder klischeehaft ausgeschlachtet noch romantisch verklärt wird. „Springsteen – Deliver Me From Nowhere“ ist die Geschichte eines Scheiterns. Ein Scheitern freilich, das letztlich zu seinem Gegenteil wird – aber ohne Happy End in ungetrübtem Rosarot.
Man muss kein Fan sein und kein Vorwissen mitbringen, um diesen Film zu mögen. Ich werde ihn mir noch ein zweites Mal anschauen, diesmal mit Frau und Tochter.
Schönen Abend,