Liebe braucht Platz – wie sich Sima vor Verantwortung hinter einem Werbefilm versteckt

Liebe braucht Platz

Wie sich Sima vor Verantwortung hinter einem Werbefilm versteckt

Mit einem humoristischen Video fordert die Verkehrsstadträtin Ulli Sima “Mehr Liebe im Verkehr!”. Die Kampagne ist der neueste Streich ihres Mantras des “guten Miteinanders”, das versucht die Verantwortung der Verkehrssicherheit auf Individuen abzuwälzen, während von politischer Seite nichts unternommen wird, um die ungerechten Rahmenbedingungen, die zu Konflikten führen, zu verändern. Wir wissen jedoch “Liebe braucht Platz” – und fordern daher entsprechend gerecht verteilte Infrastruktur, deren Umsetzung die Pflicht der Stadträtin ist. 

Bewusstseinsbildung kein Ersatz für Strukturwandel

Obwohl die Stadt gut darin ist, Kampagnen zur Bewusstseinsbildung zu schalten, bleibt sie mit ihrem eigenen Bewusstsein weit in der Vergangenheit hängen. Die populären Kampagnen der Mobilitätsagentur Wien sind beispielsweise auch ein Mitgrund, weshalb Wien in internationalen Rankings zur Fahrradfreundlichkeit gut gereiht ist, allerdings damals schon mit Verweis auf mangelnde Infrastruktur

Es ist wirklich ein alter Hut durch solche Kampagnen auf das Verhalten von Individuen hinzuweisen und damit die Schuld auf persönliche Ebene zu verschieben. Das entlastet die politischen Verantwortungsträger*innen und verschleiert ihre Untätigkeit. “Wozu aber leiten dann Berufspolitiker*innen die Geschicke der Stadt? Nur um uns Wiener*innen zu sagen, wir sollen doch bitte weniger aggressiv sein?”, so Platz für Wien Sprecher Ulrich Leth. 

Konflikte als Verteilungskampf

Wenn so getan wird, als entstünde jeder Konflikt nur aus individuellem Fehlverhalten, wird dadurch auch verschleiert, dass erst ungerechte Rahmenbedingungen dieses Fehlverhalten produzieren. Die im Video dargestellten Mobilitätsformen sind keineswegs gleichberechtigt – der Konflikt zwischen ihnen ist kein situationsabhängiges Herumgranteln, sondern ein Verteilungskampf, der für die einen Verteidigung der als selbstverständlich empfundenen Privilegien ist, für die anderen ein Einfordern ihres gleichen Rechts auf öffentlichen Raum und Bewegungsfreiheit darin, ohne bedrängt (angehupt) oder gefährdet (gedoort) zu werden.

In Ulli Simas Werbefilm sind alle Mobilitätsformen (durch die Menschen, die sie anwenden) gleichgestellt – der Platzbedarf des Kindes im Kinderwagen, der fehlende Radweg für den Radfahrer, die Fahrspur plus zwei Parkspuren für Autofahrer*innen, die übrigens als einzige CO2 aus fossilen Brennstoffen ausstoßen – das alles verblasst neben der Aufforderung: wir müssen alle beitragen für ein gutes Miteinander, für “mehr Liebe”. “Gleiche Rechte und Pflichten bei ungleichen Start- und Betriebsbedingungen führen sicher nicht zu einem guten Miteinander, sondern zu einer stillschweigenden Problemverschärfung”, hält Platz für Wien Initiator Rainer Stummer dagegen.

Politik - Kabarett mit anderen Mitteln?

Eine gerechte Verteilung des öffentlichen Raums wird vielleicht keine gute Ausgangslage für ein Kabarett bilden, dafür wäre tatsächlich eine Konfliktquelle entschärft worden. Die Tatsache, dass 67% des Wiener Straßenraums für Autos reserviert sind, obwohl nur 28% der Wege mit Auto zurückgelegt werden, während nur 1% Radwege für 8% Radverkehrsanteil existieren, wird aber weiterhin Stoff für Konflikte liefern. Ist die Verkehrspolitik der SPÖ Wien unter Sima nur Kabarett mit anderen Mitteln?

Die Marketing-Phrase des “guten Miteinander” zeigt hier erstmals deutlich was sie leisten kann und was nicht: sie beschwört eine Verhaltensänderung auf individueller Ebene, ohne eine grundlegende Veränderung Wiens einleiten zu wollen. Sima beharrt damit auf Stillstand und bittet die Bevölkerung den Wandel zu vollbringen, den sie und ihre Partei nicht schaffen.

Liebe braucht Platz - das sagt auch die Wissenschaft

Um eine möglichst konfliktreiche Situation, von der die feinsinnigen Dialoge im Video leben, zu erzeugen, eignen sich die Straßen Wiens hervorragend. Vor allem beim zu Fuß gehen sorgt der hiesige Platzmangel aber nicht für “Mehr Liebe im Verkehr”, sondern für zwischenmenschliche Barrieren: Bereits 1981 zeigte eine Studie [1], dass bei zunehmendem Autoverkehr in einer Straße die Anzahl der sozialen Beziehungen der Bewohner*innen abnimmt. „Die Autos werden zunehmend zum Hindernis, das Überqueren der Straße gefährlich, der Aufenthalt in der Gasse unangenehm. Wie viele liebevolle, humorvolle, typisch wienerische Plauscherl wurden schon verhindert, weil dem Autoverkehr der Vorzug eingeräumt wurde? Wir werden es nie erfahren …”, schlussfolgert Platz Für Wien Sprecherin Barbara Laa.

Soziale Interaktionen auf Straßen - Nachbar*innen und Besucher*innen - Appleyard, B. (2020). Livable Streets 2.0. Elsevier
Appleyard, B. (2020). Livable Streets 2.0. Elsevier, bearbeitet mit eigener Übersetzung
Quellen:

[1] Appleyard D (1981) Livable Streets (Berkeley, CA: University of California Press)
https://copenhagenizeindex.eu/cities/vienna
https://www.wien.gv.at/presse/bilder/2021/05/17/filmdreh © C. Fürthner