Kahlschlag im Herbst: Offenbar massive Einsparungen an Wiener Volksschulen

Unterrichtsstunden werden gestrichen, Lehrkräfte müssen gehen: Eltern und Pädagogen protestieren

vom 22.06.2021

Einige Aufregung herrscht gerade um geplante Einsparungen im Schulbereich: Ende vergangener Woche wurde den Eltern an Wiener Volksschulen mitgeteilt, dass im Herbst massive Einsschnitte bevorstehen, die dazu führen werden, dass …

  • … teilweise deutlich weniger Stunden abgehalten werden können (und zwar bis zu 20 Prozent) und dadurch

  • Lehrkräfte ihre Arbeitsstellen an den jeweiligen Schulen verlieren.

  • Stattdessen sollen vermehrt Freizeitpädagoginnen eingesetzt werden.

Ein paar Beispiele: In der VS 3 im Bezirk Landstraße fallen beispielsweise 98 Unterrichtseinheiten weg – „Integrationsklassen, Mehrstufenklassen und Projekte wie soziales Lernen wurden nicht mehr berücksichtigt. Diese pädagogischen Maßnahmen zeichnen den Schulstandort seit vielen Jahren aus“, heißt es in einem Protestschreiben des dortigen Elternvereins. Das sei „umso bedenklicher, als die letzten eineinhalb Schuljahre von außerordentlich herausfordernden Lehr- und Lernbedingungen geprägt waren“.

In der VS Schulgasse, die als GEPS-Schule einen Sprachschwerpunkt hat, muss nicht nur der englischsprachige Native Speaker gehen, es wird in den bilingual deutsch-ungarischen Klassen voraussichtlich auch keine Ungarisch-Lehrkräfte mehr geben.

In der VS Zennerstraße werden alle Förderstunden für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten ersatzlos gestrichen: „Wir müssen mit ca. 20 Prozent (!) weniger Stunden auskommen und das, obwohl wir aufgrund der gestiegenen Schülerzahl eine Klasse mehr eröffnen müssen!“, kritisiert ein offener Brief, den das Lehrpersonal und die Eltern unterschrieben haben. Die Petition der Elternvertreter haben beinahe 3.000 Menschen unterschrieben.

Die Bildungsdirektion hat den Schulen einen Maulkorb umgehängt: Anfragen von FALTER.morgen wurden an mehreren Standorten mit Verweis auf ein Redeverbot seitens der Behörde abgelehnt.

Gegenüber der österreichischen Presseagentur APA sagt eine Sprecherin, die zusätzlichen Freizeitpädagogen würden nicht per se bedeuten, dass es an den verschränkten Ganztagsschulen weniger Lehrer gebe. Im Gegenteil: Laut Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sollte es für Wien eigentlich 130 Stellen mehr geben als noch im Vorjahr. Die Hauptstadt profitiert auch überdurchschnittlich von der Förderungen für außerordentliche Schülerinnen und Schüler.

Der Grund für die Aufregung ist eine Reform der Lehrerverteilung an den Pflichtschulen, die Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr Anfang des Monats präsentiert hat. Ab Herbst sollen die insgesamt 12.500 Stellen in Wien unter anderem nach folgenden Kriterien vergeben werden: Anzahl der Schüler, Klassengröße, Deutschförderung und Betreuungsbedarf (mehr Lehrer, wenn Kinder mit schlechterem sozioökonomischen Hintergrund mehr Betreuung brauchen).

Was steckt hinter der Ressourcenverteilung an Wiens Pflichtschulen?

Das neue System und seine Folgen am Beispiel einer Volksschule

Bisher war es so, dass einer Volksschule für jede ihrer Klassen ein Kontingent von jeweils 26 Stunden zur Verfügung stand. In den 1. und 2. Klassen waren 22 davon für den Pflichtunterricht vorgesehen, in den 3. und 4. Klassen 24. Die restlichen vier bzw. zwei Stunden wurden für Religionsunterricht und Förderstunden verwendet – die Direktionen hatten also einen gewissen Spielraum.

Mit dem neuen System ändert sich das. Die Stundenkontingente werden nicht mehr pro Klasse gegeben, sondern abhängig von der Zahl der Schülerinnen und Schüler. Die wird durch 25 dividiert, und daraus ergibt sich eine (fiktive) Zahl von Klassen, die jeweils ein Basis-Kontingent von 20,5 Stunden bekommen. Zuzüglich gibt es Unterrichtseinheiten für spezielle Angebote und sogenannte Index-Stunden: ihr Ausmaß orientiert sich daran, wie benachteiligt der jeweilige Schulstandort gilt. Dadurch sollen sogenannte Brennpunktschulen mit mehr Ressourcen versorgt werden, die anderswo vorhanden sind.

An einem konkreten Beispiel (etwas vereinfacht) vorgerechnet: Eine Volksschule hat im laufenden Schuljahr 98 Schüler, die auf fünf Klassen aufgeteilt sind – und damit Lehrkräfte für diese fünf Klassen und 130 Unterrichtsstunden zur Verfügung.

Im nächsten Schuljahr kommen an dieser Schule zwei Schülerinnen dazu. Nach der neuen Berechnungsmethode wird ihre Zahl durch 25 dividiert. Das ergibt vier Klassen à 20,5 Unterrichtseinheiten – das ergibt nur mehr ein Basiskontingent von 82 Stunden und wohl auch entsprechend weniger Lehrkräfte.

An Brennpunktschulen soll diese Kürzung nunmehr durch „Indexstunden” und Einheiten für Zusatzangebote ausgeglichen werden. Wie diese berechnet werden, „hängt von mehreren Faktoren ab”, heißt es aus der Bildungsdirektion.

Klingt gut. Stellt sich in der Praxis allerdings anders dar. Ein Beispiel, das uns aus dem 21. Bezirk berichtet wird: Eine Volksschule, die als Brennpunktschule gilt und daher Indexstunden zugewiesen bekommt. Allerdings sind dort die Kürzungen der Basis-Stunden so massiv, dass der Pflichtunterricht nur mehr aufrechterhalten werden kann, wenn die (eigentlich für Verbesserungen vorgesehenen) Indexstunden dafür herangezogen werden.

Die Volksschulen sind die großen Verlierer

Es sind vor allem Eltern und Lehrkräfte aus Volksschulen, die uns von Stundenkürzungen, der Streichung von Zusatzangeboten und weniger Lehrpersonal ab Herbst berichten.

Das könnte daran liegen, dass alle Kinder aus allen Schichten und Milieus in die Volksschule gehen – und das Bildungs- und Sozialgefüge dort besser gemischt ist. Mit anderen Worten: Es gibt Unterschiede zwischen den Volksschul-Standorten, aber sie sind geringer als im Bereich der Mittelschule, in der nach der Volksschule tendenziell die sozial und bildungsmäßig benachteiligten Kinder landen. ydDie Mittelschule ist in Wien eine Restschule. Eltern, denen es wichtig ist, versuchen ihre Kinder aufs Gymnasium zu schicken, der Rest bleibt in der Mittelschule”, sagt der sozialdemokratische Lehrergewerkschafter Thomas Bulant.

Die Mittelschule profitiert also eher vom „Mini-Chancenindex”, auf Basis dessen ein Teil der Stunden ab Herbst verteilt wird. Laut Bildungsdirektion wird es keine großen Verschiebungen geben, weil diese Indexstunden nur 2,5 Prozent des Gesamtkontingents ausmachen.

Es gibt zu wenig Lehrkräfte in Wien

In Wien stehen ab Herbst 12.500 Planstellen für Pflichtschulen zur Verfügung – um 130 mehr als im Vorjahr. „So viele Pflichtschullehrer wie noch nie”, titelte der Kurier vor drei Wochen. In Volksschulen kommt ein Lehrer auf 14,5 Kinder. In Mittelschulen ist es eine Lehrerin für 10 Kinder.

Gleichzeitig wird es im kommenden Schuljahr aber geschätzt 3.000 zusätzliche Schülerinnen geben. Um das gegenwärtige Betreuungsverhältnis aufrecht zu erhalten, bräuchte es also über 200 Lehrkräfte mehr. „So viele wie noch nie” sind für den tatsächlichen Bedarf also immer noch zu wenig.

Was bedeutet das für den Herbst? „Die wenigsten Schulen werden am Ende mit einem Plus an Stunden aussteigen, weil es einfach zu wenig Ressourcen gibt”, sagt Bulant. Es brauche mehr Investitionen in die Bildungspolitik.

Der Artikel wurde im Nachhinein um den Teil „Was steckt hinter der Ressourcenverteilung“ ergänzt. 

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