Alles über die Grande Dame der Sozialforschung
Günther Sandner in FALTER 48/2021 vom 03.12.2021 (S. 22)
Eine umfassende Edition widmet sich dem Werk und Leben der sozialdemokratischen Wissenschaftlerin Marie Jahoda
In einer der großen Sozialforscherin Marie Jahoda gewidmeten Edition sind bisher drei Bände erschienen: ihre Dissertation "Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930" aus dem Jahr 1932, eine 1938 abgeschlossene, aber erst später veröffentlichte Studie über ein Projekt mit ehemaligen Bergarbeitern in Wales ("Arbeitslose bei der Arbeit") sowie Aufsätze und Essays aus dem Zeitraum 1937 bis 1997. Der vierte Band unterscheidet sich davon, weil er keine Publikationen Jahodas enthält, sondern wissenschaftliche Beiträge über sie, ihren politischen Aktivismus und ihre Verfolgung im Austrofaschismus.
Horst Schreiber und Meinrad Ziegler behandeln Marie Jahodas Zeit in der politischen Illegalität, ihre Verhaftung und ihre Verteidigungsstrategie vor Gericht, die darin bestand, immer nur das zu gestehen, was bereits unbestreitbar nachgewiesen werden konnte.
Die junge Sozialdemokratin ging nach den Februarkämpfen 1934 in den Untergrund und arbeitete dort für den Schulungsausschuss der Revolutionären Sozialisten. Ende November 1936 wurde sie verhaftet und oft stundenlangen Kreuzverhören unterworfen. Zwar gab es, wie sie selbst berichtete, keine physische Gewalt, doch die hygienischen Zustände in der Haft waren grauenhaft, mit Würmern in der Suppe und Wanzen in der Zelle.
Über Jahodas Einzelschicksal hinaus beleuchtet Andreas Kranebitter die politische Verfolgung der linken Opposition in den Jahren 1934-1938. Dabei kam es zur Anwendung von "Kautschukparagrafen" und Dreifachbestrafungen, bestehend aus Polizeistrafe, Anhaltehaft und Gerichtsstrafe.
Marie Jahoda wurde schließlich wegen Hochverrats und der Unterstützung einer staatsfeindlichen Organisation verurteilt, als Folge internationaler Interventionen jedoch nach neun Monaten Haft vorzeitig entlassen. Der Preis dafür war hoch: Sie verlor im Alter von 30 Jahren ihre österreichische Staatsbürgerschaft und musste im Sommer 1937 nach England emigrieren. 1945 verließ sie das Land, um zu ihrer Tochter in die USA zu gehen, kehrte 1958 aber wieder nach Großbritannien zurück, wo sie den Labour-Politiker Austen Albu heiratete.
Vor dem Hintergrund dieser Biografie untersucht Christian Fleck die weltanschauliche und politische Entwicklung Jahodas. Sie erstreckte sich vom frühen Eintritt in die Sozialdemokratische Partei und der Arbeit im Untergrund in Österreich über politische Aktivitäten in den Ländern des Exils bis hin zu ihrem Auftritt beim Parteitag der SPD im Jahr 1982. Der hohe Stellenwert der Erfahrungswissenschaft, die keiner Theorie oder Programmatik untergeordnet wurde, und die Ablehnung eines elitären Intellektualismus zählen zu den Kontinuitäten ihres politischen Weltbilds.
Kürzere Texte wie etwa Erinnerungen von Jahodas Tochter Lotte Bailyn ergänzen das ausgezeichnete Buch. Ein wenig irritierend ist lediglich ein etwas bemüht origineller Tonfall an manchen Stellen.
Etwa wenn eine völlig unpoetisch formulierte, strategisch motivierte Aussage des verhörten Josef Hindels als in "hoher Dichtkunst" vorgetragen charakterisiert wird.
Zudem kommt es zu einigen Redundanzen. Dasselbe englischsprachige Dokument wird etwa an zwei Stellen des Buches ausführlich zitiert, von den jeweiligen Beitragsautoren aber voneinander abweichend ins Deutsche übertragen.
Dessen ungeachtet liegt mit dieser Neuerscheinung eine überaus informative und kenntnisreiche Publikation vor, die vor allem auch wichtige Hintergrundinformationen zu den zuvor herausgegebenen Studien, Aufsätzen und Essays Jahodas bietet. Textdokumente und Fotos bereichern das Buch, das wie alle Bände der Edition sehr ansprechend gestaltet ist.