Der Handlungsdruck lässt bereits eine Notmaßnahme befriedigend erscheinen, sagt der Soziologe Arno Pilgram im Gastkommentar.

Das "Graue Haus", die Justizanstalt Josefstadt, soll saniert werden. Auswirkungen auf Belagsdruck und Überbelegung wird das jedoch nicht haben.
Foto: Regine Hendrich

Anlässlich der Bekanntgabe von Plänen und Geldmitteln für die Sanierung des "Grauen Hauses" stand an dieser Stelle am 31. 10. ein Plädoyer von Stadtplaner Erich Raith für "Stadt statt Knast". Statt einer "düsteren Haftanstalt" könnte am Standort des Grauen Hauses ein weiterer "funkelnder Puzzlestein" im Kultur- und Universitätsbezirk Glacis-Viertel gesetzt werden. Mit den hunderten Millionen für die Sanierung des Straflandesgerichts und der zugehörigen Justizanstalt würden für eine lange Zukunft Fakten geschaffen, Chancen für die Stadtentwicklung wie für die Entwicklung der Rechtspflege hingegen vergeudet.

Auch wenn hier mitschwingt, schmuddelige Kinder – Strafgericht und Gefängnis – aus dem Stadtbild zu verdrängen und Premiumgrundstücke in der Innenstadt an und für attraktivere Kunden zu vermarkten, ist die Frage ernst zu nehmen, wie entwicklungsfähig Strafrechtspflege und Justizanstalt an ihrem jetzigen Ort in Wien sind und worauf man mit der Entwicklung letzten Endes hinauswill.

"Wien wird also eine neue Attraktion bekommen: das am besten mit öffentlichem Verkehr erschlossene Gefangenenhaus der Welt."
Erich Raith im Gastkommentar

Fundamentale Probleme

Die lange aufgeschobene Sanierung des Komplexes bei laufendem Betrieb wird sich zehn Jahre hinziehen, beim Gerichtsgebäude beginnen und mit dem Gefangenenhaus abschließen. Die Sanierungszusage lässt alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtungen und in der Justizverwaltung aufatmen. Schließlich müssen sie einräumen, selbst die minimalen gesetzlichen, geschweige denn die sachlich gebotenen Anforderungen an einen zeitgemäßen Haftvollzug derzeit nicht erfüllen zu können. Der Handlungsdruck ist jahrzehntelangen Versäumnissen strategischer Planung geschuldet, er lässt bereits eine Notmaßnahme befriedigend erscheinen und vergessen, was an fundamentalen Problemen zu lösen ist.

Österreichs Justizanstalten sind überfüllt. Sinkende Verurteilungszahlen wirken sich nicht entlastend auf den Belag der Anstalten aus. Strafrechtsreformen seit Justizminister Christian Broda haben zwar diverse alternative, kostengünstige, sozialkonstruktive und effektive Antworten auf Straftaten eingeführt und Haftrisiken für psychisch gesunde und sozial eingebundene Personen stark verringert. So vielen von ihnen Haft bei Strafrechtsverstößen erspart wird, so viel stärker werden heute jedoch die Justizanstalten von psychisch belasteten und kranken sowie von ausländischen Straftätern frequentiert.

"In der Justizanstalt Josefstadt ist der ‚Überbelag‘ chronisch."

Was erwartet man sich in der Strafjustiz von Zeiten anhaltender kollektiver Anspannung sowie steigender internationaler Mobilität und Migration? Wie gedenkt man sich darauf einzustellen? Was sind die Vorhaben zur Reform von Maßnahmenrecht und -vollzug und zur besseren Abstimmung mit den psychiatrischen Versorgungsstrukturen in den Ländern? Was fällt zur Haftvermeidung bei Straftätern fremder Nationalität und zur Vermeidung integrationspolitischer Fehler ein? Nachdem auf solche Fragen wenig Augenmerk gerichtet wird, wird sich an Belagsdruck und Überbelegung in den Justizanstalten absehbar wenig ändern.

In der Justizanstalt Josefstadt ist der "Überbelag" chronisch, und er geht derzeit gegen 20 Prozent. Die Sanierung soll das Ende von Großraumzellen mit zehn Betten und den Fortschritt zu maximal Vier-Bett-Zellen für alle bringen, weit entfernt von der gesetzlichen Norm der Einzelzelle für alle, die es sich wünschen. Der Raum für die individuelle Person wird durch Raumteilung nicht größer. Es entsteht dadurch auch kein zusätzlicher für mehr Beschäftigungs-, Bildungs- und Behandlungsmaßnahmen sowie für sportliche oder kulturelle Freizeitgestaltung, auch nicht für die berühmte "Bewegung im Freien" im lichtschachtartigen Innenhof.

"Ost-West-Gefälle" bei U-Haft

Das Gefängnis ist und bleibt zu groß und im Vergleich zu den etwas außerhalb der Stadtzentren neu errichteten gerichtlichen Gefangenenhäusern von Korneuburg, Salzburg oder Leoben nicht nur überdimensioniert, sondern auch Substandard in Bezug auf menschenwürdige Lebensbedingungen. Wer einen solchen Maßstab Gefangenen gegenüber für überzogen findet, möge sich vergegenwärtigen, dass es sich um Untersuchungsgefangene handelt, in Wien zudem um viele Jugendliche und junge Erwachsene sowie um vorläufig oder endgültig Untergebrachte im Maßnahmenvollzug für psychisch Kranke, für die in speziellen Anstalten wie Göllersdorf kein Platz gefunden wurde.

Der überall spürbare Belagsdruck hat noch einen Wiener Nährboden, das traditionelle und sprichwörtliche "Ost-West-Gefälle" in der Strafpraxis. In Wien wird, in einer neuen Studie bestätigt, dreimal öfter U-Haft verhängt als in westlichen Gerichtssprengeln und sind die Strafmaße überdurchschnittlich. Das erklärt sich nur zu einem Teil aus der Menge und Schwere der Strafanzeigen und dem größeren Anteil von Beschuldigten mit Wohnsitz oder Herkunft im Ausland. Bei der Ursachenanalyse für dieses hartnäckige Gefälle wurde schon früh auf eine regionale Besonderheit in Wien (und Graz) hingewiesen, die abgespaltene Strafgerichtsbarkeit. Es kann spekuliert werden, dass in kleineren und "Vollgerichten" die Strafjustiz "zivilisiert" werde. Wo Straf- und Zivilgericht sich in einem Hause befinden, sich Publikum und Gerichtspersonal durchmischen, könnte dies auf die strafrechtlichen Umgangsformen abfärben. Auch wenn dies spekulativ bleibt und Analysen zur regionalen Rechtskultur auch andere Faktoren einbeziehen, sind die regionalen Praxisdifferenzen nähere Überlegung und eine korrigierende Antwort wert.

Dunkle Seiten

Was nicht zu bezweifeln ist, ist die Symbolik des Ortes, die eine Hypothek darstellt. Der Volksmund spricht vom Grauen Haus. Ich habe 2003 bei der Übersiedlung des Jugendgerichtshofs und seines Gefangenenhauses in die Josefstadt darüber nachgedacht, was das für das Bild und Selbstbild der straffälligen Jugendlichen bedeuten mag. Es beginnt bei der überwältigenden und verwirrenden Architektur des Hauses, setzt sich in den bürokratischen Abläufen der Großorganisation und der avancierten Gefangenen- und Beamtensubkultur fort, dass sich der Mensch hier so zu verstehen beginnt, wie ihm das Haus begegnet, als "schwerkriminell". Der Ort prägt die Vorstellungen seiner Innen- wie Außenwelt, was in und hinter diesen Mauern Sache ist.

Der Schriftsteller Gerhard Roth hat in seinen Reportagen Reisen in das Innere von Wien Anfang der 1990er-Jahre über seine Besuche und Recherchen zum Beispiel im Männerheim in der Meldemannstraße (Hitlers Adresse in der Stadt), dem "Narrenturm", dem Heeresgeschichtlichen Museum oder eben auch im Grauen Haus berichtet, lauter Stätten, an denen Wien seine dunklen Seiten zeigt und zugleich verbirgt. Seine Reportage fällt in die Zeit nach der ersten großen baulichen Modernisierung des Gefangenenhauses in den 1980er-Jahren. Dazu äußert er den Verdacht, "dass es sich nur um eine neue Flasche für den alten Geist handelt". Wird man diesen Geist im zweiten Anlauf so wegbringen, wie man damals den typisch unangenehmen und peinlichen Gefängnisgeruch (nach Auskunft des damaligen Anstaltsleiters gegenüber Roth) dadurch beseitigte, dass man in den Gängen leichten Über- und in den Zellen leichten Unterdruck herstellte?

Verschärftes Provisorium

Was vom und am historischen Ort bestehen bleiben sollte, ist die Gedenkstätte zur Erinnerung an die im Grauen Haus Hingerichteten – das waren 1248, davon 1184 unter der Naziherrschaft –, erweitert vielleicht um ein kleines, feines justizgeschichtliches Museum. Über den historischen Wert des Gebäudes lässt sich streiten. Dass er groß genug ist, um zu rechtfertigen, es zu erhalten, in seiner Funktion zu belassen und dabei Defizite in Kauf zu nehmen, darf bezweifelt werden. Die Sanierungsphase wird das Provisorium verschärfen, und ihr Abschluss wird es nicht beenden. In diesem Wissen müssten heute schon Pläne für danach entworfen und berücksichtigt werden. Sie sollten in breite stadt- und kriminalpolitische Zielvorstellungen eingebettet sein. (Arno Pilgram, 22.11.2021)