Theaterwinter
Fliegende Delfine und die weibliche Weltherrschaft im ersten Bezirk, ein Giftanschlag und Muttermilch, Musik und Widerstandskampf: Auf den Wiener Theaterbühnen geht es gerade ab. Acht Kritiken aktueller Produktionen
„Am Sand“
Anna Mabo ist eine Zauberkünstlerin. Sie singt ein, zwei Zeilen und bringt dich damit zum Lächeln, sie singt noch ein paar Zeilen mehr und regt damit zum Nachdenken an, macht dich gleichzeitig aber auch froh und nimmt dich in den Arm mit Worten und schlichten Melodien. Ist das Lied dann aus, hast du ein bisschen mehr Kraft als davor. Dabei ist Anna Mabo noch nicht einmal Musikerin, also zumindest nicht in erster Linie.
Mabo ist die Kurzform von Marboe, so heißt die 26-jährige Wienerin bürgerlich. Sie hat Theaterregie studiert und bereits mit einer Handvoll Inszenierungen reüssiert. Aber da ist eben noch die musikalische Seite, die Marboe schon als Teenager ausgelebt und samt der Emphase und Leidenschaft der Lagerfeuer-Klampferei ins Erwachsenenalter gerettet hat. Kindlich naiv und lebenserfahren weise zugleich, so irgendwie; nachzuhören auf zwei wunderbaren Alben, 2019 und 2021 erschienen. „Notre Dame“ heißt das aktuelle.
Nun hatte der Rabenhof die schlaue Idee, Mabo und Marboe gemeinsam zu buchen, für ein Stück, das sie schreibt, inszeniert und in dem sie auch singt. Kein Musical, gottlob, aber eine musikalisch-theatrale Revue. Sie heißt „Am Sand“, was so ähnlich wie „Am Strand“ klingt, der ja auch gern sandig ist und hier bisweilen den Bühnenhintergrund bildet, samt fliegendem Delfin und Fotos von Anna Mabo in unterschiedlichen Posen. Eigentlich meint „am Sand“ jedoch „ziemlich fertig“. Fertig ist Mabo durch das Nebeneinander von Selbstzweifel und Größenwahn. Zweiterer lässt sie an die Öffentlichkeit treten und Gedanken in die Welt hinaustragen, Ersterer fängt ihn wieder ein, weil: Echt jetzt? Geht das nicht besser? Und: Was soll das überhaupt?
Dieser Zwiespalt ist das Fundament des Stücks. Nur wird hier nicht reflektiert, philosophiert und problematisiert, sondern lieber Schmäh geführt: „Am Sand“ handelt scheinbar von der Vorgeschichte dieser Produktion und endet in dem Moment, als das Stück eigentlich beginnen sollte.
Auf einer halbwegs schlichten und doch prächtig bunten Bühne (Thomas Schrenk) thematisiert dieses Szenen-Stakkato mit Musik tatsächlich jene Vielzahl an Möglichkeiten, die privilegierte junge Kunstschaffende aus gutem Hause haben, sowie allerlei Fragezeichen, die an Entscheidungen kleben wie ein alter Kaugummi an Schuhsohlen; umgesetzt durch sechs in rosa Overalls gekleidete Personen, die alle „Anna“ sind. Eine davon ist es wirklich, zwei spielen Musik (Clemens Sainitzer, Cello, und Alexander Yannilos, Schlagwerk), drei stellen dar (Hanna Binder, Thomas Frank, Luigi Bisogno).
Als Geschichte ist das mäßig interessant, als unkonventioneller Theaterabend haut „Am Sand“ freilich gut hin – obwohl die Eröffnungssequenz Bauchweh bereitet. Der erste Anna-Darsteller ringt eine Weile mit dem Vorhang, bis er es endlich auf die Bühne schafft. Dort gibt er dann den Pantomime-Blödler, während die echte Anna im Hintergrund „Am Werden“ spielt, ihr allerschönstes Lied. Das Publikum nimmt den Text allerdings nur so halb wahr, ist es doch von zu vielen Lachern ob der depperten Grimassen beschäftigt.
Doch das Lied siegt, und die folgenden 80 Minuten werden zu einer kurzweilig-bunten Nummernrevue, in der auch scheinbar billige Gags einen doppelten Boden haben können, der „I bin geil“-Aufkleber auf einem alten Kasten aus Annas Wohnung etwa. Inmitten des steten Gewusels haben U-Bahn-Fahrten und Autounfälle ebenso Platz wie ein Miniatur-Puppenspiel und ein Battle-Rap bei Tisch.
Dabei gibt es so tolle, obendrein einwandfrei in Szene gesetzte Sager wie „Ihr wollt Frauen am Theater? Ja? Junge Frauen? Hier habt ihr eure jungen Frauen! Das habt ihr jetzt davon. Frauen am Theater, schauts euch an den Schas“; „Annas krachen einfach irgendwo rein und legen ihre Eier auf den Tisch, direkt neben das Kilo Rohschinken, mit dem sie jeden Tag Zähne putzen“ oder: „Es könnte alles so leicht sein.“
Suchen Sie also lieber nicht nach dem tieferen Sinn. Die Mabo und die Marboe hatte letztlich – Selbstzweifel hin, Genieblitzmangel her – offensichtlich ihren Spaß, und den werden Sie hier auch haben. Der eine oder andere Lacher an der falschen Stelle ist letztlich gar nicht so schlimm.
Gerhard Stöger
Rabenhof, nächster Termin: 21.1., 20.00
Greißlerei-Lieder: „Die Milchfrau“
Wer saugt da alles an ihren Brüsten? Mit routiniertem Griff legt sich die Milchfrau (Michèle Rohrbach) erst das Kind, dann den Mann an den Busen. Die Milch fließt. Sie rinnt in die Kannen, die zuhauf auf der Bühne stehen. Sie füllt das Wasserbecken in der Bühnenmitte. Sie wird von den Kundinnen begehrt. Das vielköpfige Ensemble interpretiert mehrstimmig Peaches: „Suckin’ on my titties like you wanted me“.
Sara Ostertag hat aus Alja Rachmanowas Tagebuch „Milchfrau in Ottakring“ einen überwältigenden Theaterabend gemacht. Rachmanowa flüchtete 1925 mit ihrer Familie aus Russland nach Wien, wo sie eine Greißlerei erwarb. Anstatt Universitätsdozentin zu werden, verkaufte sie nun Zwetschken, Eier und Milch. Ohne Angst vor Pathos singen die Schauspieler:innen einen Großteil des Textes, der von Flucht, Armut, Mutterschaft erzählt. Paul Plut begleitet sie auf der Quetschn sowie dem Klavier. „Die Milchfrau“ als Theaterstück und choreografisches Musical: Mutig und schön!
Sara Schausberger
Kosmos Theater, 14. bis 16.12., 20.00
Dissidenten-Drama: „Extrem teures Gift“
In einer um Tempo bemühten Inszenierung erzählt Lucy Prebbles Drama „Extrem teures Gift“ die Geschichte des russischen Dissidenten Alexander Litwinenko, der 2006 im Londoner Exil vom Geheimdienst FSB ermordet wurde. Litwinenko war für den FSB selbst als Ermittler tätig gewesen. Als er die Korruption in den eigenen Reihen anprangerte, wurde er zum Staatsfeind.
Das karge Bühnenbild stellt die Schauspieler in den Mittelpunkt: Daniel Jesch als resignierten Rebellen Litwinenko und – vornehm-verletzlich – Sophie von Kessel als dessen eigentlich unpolitische Gattin Marina, die nach dem Mord um juristische Aufklärung kämpft. Nur selten schwingt sich die Inszenierung von Regisseur Martin Kušej zur großen Gegenwartstragödie auf. Meist hechelt die Aufführung etwas ungelenk den Breaking News von gestern hinterher.
Matthias Dusini
Burgtheater, 17.12. und 15., 20. und 29.1., 19.30
Text versus Regie: Handkes „Zwiegespräch“
Peter Handke hat einen neuen Theatertext verfasst. Ein alter Mann, ein Dichter, kommt darin vor. Er erinnert sich: an den eigenen Großvater, an das erste Theaterstück im Turnsaal der Schule, an Lichtstimmungen und an die Leere.
Unauffällig und leise ist Handkes „Zwiegespräch“, das die junge Regisseurin Rieke Süßkow mit viel Gespür für Rhythmus, Geräusch und Visuelles zu einem überraschend humorvollen Abend macht, an dem der Text die Nebenrolle spielt. Fünf Alte müssen auf Mirjam Stängls raffinierter Bühne nacheinander abtreten: Wer beim Sesseltanz verliert, kommt wenig später als Urne wieder zurück. Elisa Plüss und Maresi Riegner in weißen Schürzen und schwarzen Handschuhen kümmern sich pragmatisch um die choreografierte Abfertigung der Weißhaarigen. Die Regie hat hier eindeutig die Nase vorn.
Sara Schausberger
Akademietheater, 17.12., 14. und 27.1., 19.30, und 25.12., 6.1., 19.00
Missbrauch und Kirche: Haslingers „Mein Fall“
Der Schriftsteller Josef Haslinger veröffentlichte 2020 „Mein Fall“, einen Bericht über den sexuellen Missbrauch, der ihm als Kind im Sängerknabenkonvikt des Stifts Zwettl widerfahren ist – sowie auch über seine Anstrengungen, den Fall vor die zuständige Ombudsstelle zu bringen. Nach dreimaligem Vorsprechen wird Haslinger aufgefordert, seine Geschichte doch selbst aufzuschreiben.
Ali M. Abdullahs Inszenierung verbindet im Setting zwischen Video-Projektion und „Therapiehaserl“ eine konzentrierte Nacherzählung der Vorlage mit szenisch ausgestalteten Rückblicken auf die Geschehnisse. Fünf Darsteller spielen abwechselnd die Vorsitzende der Opferschutzkommission oder den Täter Pater G. Mit beeindruckender Behutsamkeit arbeitet der Abend das Strukturelle des Missbrauchs und seiner fehlenden Aufarbeitung hervor.
Theresa Gindlstrasser
Werk X, 16. und 17.12., 19.30
Widerstandskampf: „Jeder stirbt für sich allein“
Berlin, im Juni 1940. In der Jablonerstraße 55 leben Otto und Anna Quangel. Als Sohn Franz in Frankreich fällt, beschließt das Ehepaar, sich im Widerstand zu engagieren: Mit Postkarten wollen sie die Menschen aufrütteln. 1947 veröffentlichte Hans Fallada den Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Im Theater an der Josefstadt hat Josef E. Köpplinger die beklemmende Geschichte als musikalisches Schauspiel von Franz Wittenbrink inszeniert.
Der Partitur, einer Mischung aus Jazz, Tango und Balladen, fehlt es an subversivem Zunder, um den brutalen Alltag im Dritten Reich zu untermalen. Je länger der Abend dauert, desto unglaubwürdiger, geradezu harmlos wirken die gesungenen Passagen des sonst überzeugend agierenden Ensembles – vom glühenden Nazi über den Mitläufer und Profiteur bis zum Widerstandskämpfer.
Miriam Damev
Theater in der Josefstadt, 19. und 20.12., 9. bis 11.1., 19.30
Schwurbler-Trio: „The Secret Bubble“
Die Autor:innen Thomas Arzt, Barbi Marković und Mario Wurmitzer haben zusammen ein Stück geschrieben. „The Secret Bubble“ handelt von Schwurblern und Verschwörern. Auf grauen Gymnastikbällen hüpft das dreiköpfige Ensemble dem immer größer werdenden Wahnsinn entgegen: Ein chinesisches Frauennetzwerk hat den ersten Bezirk gekauft, die künstliche Gebärmutter geht in Produktion und „die weibliche Weltherrschaft steht bevor“.
Als Gesamtes funktioniert der Abend (Regie: Susanne Draxler) nur bedingt, dafür merkt man ihm die geteilte Autor:innenschaft zu sehr an. Dass im Programm steht, wer welchen Teil des Stücks verantwortet, verstärkt diesen Eindruck. Witzig ist die Satire aber, etwa wenn es heißt „Die Schulmedizin heilt immer weniger“ oder „Wir müssen Platz schaffen für ein Bierzelt der Versöhnung!“.
Sara Schausberger
Werk X Petersplatz, 14. bis 16.12., 19.30
Ein unglaubliches Leben: „A brenhassa Summa“
Alljährlich im Dezember erinnert das Hamakom mit der Eröffnung von Sam’s Bar an die eigene Vergangenheit als Vergnügungsetablissement. Bar und Bühne stehen sich hier gleichwichtig gegenüber, bei Cocktails, Bier und Kerzenschein kommt es zu einer den Alltagszusammenhängen entrückten Behaglichkeit. Neben dem Konzertprogramm findet in dieser Atmosphäre auch der musikalische Theaterabend „A brenhassa Summa“ in der Regie der künstlerischen Leiterin Ingrid Lang statt.
Viktor Noworski, Autor des gleichnamigen Buches, steht mit drei Schauspielenden und einem Musiker auf der Bühne. Gemeinsam erzählen sie die unglaubliche Biografie von Noworski. Das Quintett reflektiert dabei über den Anfang des Lebens und unsere menschliche Rundkopfigkeit – in einer Sprach-Melange aus Wienerisch, Jiddisch und Englisch.
Theresa Gindlstrasser
Theater Nestroyhof Hamakom, 14., 15., 20. und 21.12., 19.30