Gerhard und Jule auf dem Dorfe
Klaus Nüchtern in FALTER 11/2016 vom 18.03.2016 (S. 15)
Juli Zeh verlegt den Epochen- und Gesellschaftsroman in die deutsche Provinz
Groß ist, Großes zu wollen. Und wer nichts will, bekommt auch nichts.“ Diesen Satz kann man auf der Homepage von Manfred Gortz lesen, dessen vulgärmachiavellistische Sinnsprüche im jüngsten Roman von Juli Zeh immer wieder von einer jungen Frau zitiert werden. Da diese Linda aber als überdrehte und ziemlich unsympathische Power-Göre dargestellt wird, ist wohl davon auszugehen, dass Frau Zeh Herrn Gortz in Wirklichkeit für einen Vollkoffer hält. Gleichwohl hat sie sich an dessen Motto gehalten. Denn mangelnde Ambition kann man der 41-jährigen Erfolgsautorin wirklich nicht vorwerfen.
Zehs jüngstes, über 600 Seiten starkes Opus „Unter Leuten“ stellt den dezidierten Versuch dar, „den Zeitgeist und die Befindlichkeit einer ganzen Epoche in einen Roman hineinzuerzählen“. Dass dieses große Gesellschafts- und Epochenpanorama ausgerechnet auf dem Dorfe spielt, ist angesichts des Umstandes, dass seit 2007 weltweit die Hälfte der Menschen in Städten lebt (2050 sollen es zwei Drittel sein), schon einmal eine Ansage und dramaturgisch clever gemacht. Denn am Beispiel eines Brandenburgischen Provinzkaffs namens Unterleuten lassen sich Themen wie die sozialen und mentalen Folgen der deutschen Teilung und der Wiedervereinigung, Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, Stadtflucht, Immobilienspekulation oder Energiewende auf überschaubarem Raum verhandeln.
Dass ein Bewohner von Unterleuten als Indianer in einem Tipi haust, ist zwar skurril, aber durchaus schlüssig, denn der Roman ist auch eine Art Western, in dem Clans ihre jahrzehntelang gehegten Fehden ausfechten, sture Patriarchen ihre Getreuen zum letzten Gefecht versammeln und die zugereisten Greenhorns den Alteingesessenen mit ihren verblasenen Vorstellungen von Zivilisiertheit auf den Wecker fallen.
Klotzend und nicht kleckernd hat die Autorin tatsächlich alle sich anbietenden Konflikte in den Roman „hineinerzählt“: das mythenumrankte Verbrechen in der Vergangenheit und der Kampf um die (ökonomische) Zukunft; Rache-, Ehe- und Familiendramen; verbitterte Streitigkeiten um Grenzverläufe. Was sich gegenüber dem Western geändert hat, ist die Bedeutung des Viehbestandes: Rinder sind vernachlässigenswert, Pferde nur noch Bestandteil der Wellnessindustrie, Kampfläufer die Shooting Stars der Feuchtwiesen; die streng geschützten Schnepfenvögel darf man zwar nicht jagen und nicht essen, dafür stellen sie einen wichtigen Faktor im Kampf um Territorialansprüche dar: Sie sind gut gegen Windräder.
Der Plan, in Unterleuten einen Windpark zu errichten, scheidet die Geister, erhitzt die Gemüter und bringt Bewegung in den Frontverlauf nicht nur zwischen Dörflern und Zuagrastn. Weil kein einzelner Eigentümer über ein hinreichend großes Stück Land verfügt, wird einer von dreien an den anderen verkaufen müssen, soll der Deal den im ökonomischen Sinkflug befindlichen Unterleuten zur dringend benötigten Gewerbesteuer und dem Verkäufer zu einer hübschen Summe Geldes verhelfen.
Die unterschiedlichen Interessen führen zu neuen Allianzen, und ehemals verfeindete Parteien ziehen auf einmal am gleichen Strang, genauso wie Lebensabschnittspartner einander noch fremder werden, als sie es ohnedies schon waren. Die Voraussetzungen für einen spannungs- und handlungsreichen Roman sind fraglos gegeben, allerdings scheitert dieses Unterfangen in der Umsetzung gleich mehrfach: psychologisch, erzähltechnisch und sprachlich.
Die Figurenzeichnung ist unterschiedlich subtil ausgefallen und witzigerweise gelingen Zeh die alten, fiesen Männer, die sie alle mit einer gewissen Mindestkomplexität auszustatten weiß, viel besser als die jungen Frauen, die reichlich blass oder scherenschnittartig ausfallen.
Am danebensten ist der zivilisationskritisch verhärmte, zum Vogelschutzbeauftragten mutierte Soziologiedozent Gerhard an der Seite seiner blassen Ex-Studentin Jule. Er schwatzt dermaßen viel Unfug daher, dass man ihm nicht einmal die Abfassung einer Diplomarbeit zutraut, geschweige denn die Wandlung zum gewaltbereiten Patriarchen.
Darüber hinaus hemmt die multiperspektivische Anlage des Romans den Erzählfluss und das Tempo beträchtlich, da sich die Autorin genötigt sieht, den je unterschiedlichen Bewusstseinsstand ihrer Protagonisten abzugleichen, sprich: Informationen zu wiederholen, über die Leserin und Leser längst verfügen. Redundanzen trüben das Vergnügen an der Lektüre dieses unterlektorierten Romans ganz generell erheblich, ebenso wie falsche Kongruenzen und Komparative („absoluter“) oder Pleonasmen: „als hätte er versucht, etwas zu stehlen, das ihm nicht gehörte“.
Überhaupt ist „Unter Leuten“ sprachlich ein ziemlicher Verhau. Das Idiom, das Zeh ihren Figuren in den Kopf und den Mund legt, ist vielfach stereotyp und überkandidelt („Das kapitalistische System pflanzte einen Angstkern in die Seelen seiner Kinder, die sich im Laufe ihres Lebens mit immer neuen Schichten aus Leistungsbereitschaft panzerten“); der Übergang von der personalen Perspektive zum auktorialen Kommentar fließend, und der Erzählton changiert zwischen der gesuchten Putzigkeit eines aufgekratzten Erlebnisaufsatzes und dem heißlaufenden Pathos von Heftchenromanen.
Da „zischt“ ein Lachen „wie das Drohgeräusch eines Raubtiers“; der Anblick eines Grundstücks „folterte die Sinne wie ein anhaltender Schrei“, und ein Rasenmähverbot verhängt „ein schöpferisches Armageddon“ über den zur Untätigkeit Verurteilten.
Ein Roman, der seine Leser bei der Stange halten will, sollte diese nicht wie ein Sonderpädagoge behandeln, der im geduldigen Vertrauen darauf, dass den Stoff ohnedies niemand kapiert hat, diesen auch noch ein viertes Mal erklärt. Und er sollte vom Herbstwind nicht unbedingt behaupten, dieser röche „nach abgekühlten Sonnenstrahlen“.