Am Beispiel des Löwenzahns
Katharina Kropshofer in Falter 19/2022 vom 2022-05-13 (S. 37)
Ohne Wienerinnen und Wiener würde sich der Götterbaum schon an die Arbeit machen: seine Wurzeln den Asphalt aufbrechen, Hausfassaden sprengen, seine Samen würden Dächer besiedeln. Und irgendwann, nach Jahrhunderten, würde hier entlang der Donau wohl wieder Wald stehen.
Doch noch ist die Stadt voller Menschen, die Natur nur geduldet: als ordentliche Rosenbüsche im Volksgarten, als Ahorn-oder Platanenalleen an der Ringstraße, als säuberlich getrimmte Kleingärten mancher Stadtbewohner. Sind denn wirklich alle Pflanzen hier domestiziert?
Birgit Lahner ist Pflanzenwissenschaftlerin, ihr Auge geschult fürs Grüne -und das findet sich auch in den kleinsten, naturfeindlichsten Ritzen. Wer, der über die Freyung hetzt, hat schon den Schatz unter seinen Schuhsohlen bemerkt? Das Frühlings-Hungerblümchen zum Beispiel, das extrem früh und schnell gedeiht; den anpassungsfähigen Vogelknöterich, auch "Hansl am Weg" genannt, der je nach Betritt niedrig kriecht oder kniehoch wächst; und natürlich das Gänseblümchen, das dem Menschen fast überallhin gefolgt ist und sich so an simple Wiesenflächen angepasst hat.
So groß ist die Pflanzenvielfalt in Wien, dass sie manche ländlichen Gebiete aussticht -denn wo Landwirtschaft dominiert, spritzt der Mensch auch gegen ungewolltes Kraut. In Wien wird das strenger gehandhabt.
Gemeinsam mit der Stadtführerin Cristina-Estera Klein hat Birgit Lahner die botanische Vielfalt der Stadt in ein Buch gefasst: Elf Routen - durch Neuwaldegg, Hietzing oder Heiligenstadt - führen geneigte Spaziergänger auf die Spuren des Weins oder auf Märkte, die es schon seit dem 18. Jahrhundert gibt (siehe Buchhinweis).
Spaziergang zwei (sechs Kilometer, vier Stunden) startet am Minoritenplatz und lohnt sich an Frühlingstagen. "Er liegt mitten im versteinerten Herzen der Stadt. Trotzdem gibt es botanisch viel zu sehen", so Lahner.
Schon deshalb, weil der Abstand zwischen den Pflastersteinen hier unüblich groß ist und für einen Organismus mit Wurzeln jeder Millimeter zählt. Es blüht, was gut mit Menschen und asphaltlastigen Lebensräumen kann oder diese sogar braucht.
"Viele dieser Pflanzen kommen auch in Naturlandschaften vor, aber eher kleinräumig, an speziellen Standorten wie Felswänden oder Meeresküsten", sagt Lahner und zeigt ein Exemplar auf der flachen Hand. In der Stadt wachsen etwa salzverträgliche Pflanzen. "Sie haben uns begleitet, sich mitentwickelt, an Stressoren angepasst." Sprich: viel Betritt oder Ausriss; wenig Platz oder Nährstoffe, viel Trockenheit oder Salz -Strapazen einer jungen Stadtpflanze.
"Ein Stickstoffzeiger!", ruft Lahner und deutet auf einen Löwenzahn in einem schmalen Wiesenstück. Dieser wächst dann gut, wenn es viel Nährstoffangebot im Boden gibt. Wie hat er es ins Urbane geschafft? Ein Hund muss hier ein nahrhaftes Geschäft verrichtet haben, tippt sie.
Die Pflanzen erzählen aber nicht nur von Biologie und Chemie, wer genau hinschaut, kann von ihnen auch Geschichte lernen -und genau hier kommt City-Guide Cristina-Estera Klein ins Spiel: "Ich habe die Architektur der Stadt immer in Barock oder Neoklassizismus eingeteilt." Jetzt sei ihr Blick geschärft, um Pflanzenwissen ergänzt. "Wir beide sind wie Topf und Deckel." Alleine, ohne Lizenz, dürfte die Pflanzenwissenschaftlerin Lahner solche Touren gar nicht anbieten.
In einer Stadt wie Wien ergänzen einander Botanik und Geschichte teils auf beeindruckende Weise: Der Flieder auf dem Minoritenplatz heißt im Volksmund auch "türkischer Holler", weil ihn ein kaiserlicher Gesandter namens Ogier Ghislain de Busbecq im 16. Jahrhundert aus Istanbul nach Wien brachte. "Vor allem viele Habsburger waren pflanzenaffin, fast fanatisch", sagt Klein.
Der Blauglockenbaum etwa am Mölker Steig war der Lieblingsbaum Kaiser Franz Josephs. Und dann ist da noch der Götterbaum. Dieser wird von Gärtnern nicht gerne gesehen, als gebietsfremde Art mit Gefahrenpotenzial eingestuft. "Dabei wurde er im 19. Jahrhundert bewusst angepflanzt", so Klein. Zuerst für die Seidengewinnung (ohne Erfolg), dann als Alleebaum der Ringstraße (ebenso).
Die Kastanie galt damals als proletarisch, der Götterbaum war einer Monarchie würdig -das sagt schon der Name. Viele der Bäume starben kläglich; um herauszufinden, wieso, setzte das Kaiserhaus sogar eine Untersuchungskommission ein.
Um dem Götterbaum noch eine Chance zu geben, haben ihn Lahner und Klein aufs Buchcover gegeben. "Ich verstehe, dass Stadtgärtner sie zurückschneiden, gerade, wenn sie Bauschäden verursachen. Aber er hat auch Qualitäten." Er macht Erderwärmung und Luftverschmutzung mit, seine Bitterstoffe könnten andere Holzarten widerstandsfähig machen. Wer das sehen will, muss nur auf den Stephansplatz gehen. Dort steht ein Götterbaum als einer der wenigen Bäume im Ersten, gleich neben dem Südturm.
Für die Autorinnen sollte sich die Stadt beim Jäten zurückhalten, auch einmal Pflanzen wie den Vogelknöterich einen Rasen bilden lassen -der kann das genauso wie Gras, benötigt aber weniger Wasser. "Die Menschen brauchen Ordnung, wollen beibehalten, was sie aus Kindertagen kennen", sagt Lahner, "aber das ist Natur nicht - alles verändert sich ständig."
Und was beweist das besser als der Übergang der gelben Löwenzahnblüte zur geisterhaften Pusteblume, dieses städtische Frühlingserwachen?