Die Akte Kurz

Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft will den österreichischen Bundeskanzler anklagen: Die Verdachtslage und der politische Hintergrund.

Florian Klenk, Martin Staudinger
vom 12.05.2021

Beginnen wir mit den großen Fragen in diesem bedeutenden Fall: Was ist Wahrheit? Und wo beginnt die Lüge? Und wann ist ein Politiker unter Androhung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe dazu verpflichtet, nicht zu lügen? Diese Fragen will die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) Wien geklärt wissen, und zwar anhand des Falles eines sehr prominenten Mannes: Sebastian Kurz, Bundeskanzler der Republik Österreich.

Seit Mittwoch wird erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik gegen einen amtierenden Bundeskanzler wegen falscher Beweisaussage, noch dazu vor dem Nationalrat, ermittelt.

Wenn es nach der WKStA geht, sitzt Kurz auch bald auf der knarzenden Anklagebank im Großen Schwurgerichtssaal. Eine Anklage gegen ihn wäre, darauf deutet ein FALTER-Rundruf bei Staatsanwälten und Strafrechtsprofessoren hin, die die Akte gelesen haben, nur mehr durch Druck von oben zu verhindern. Die 58 Seiten starke „Mitteilung über die Einleitung eines Strafverfahrens“, die ihm die Anklagebehörde am Mittwoch zugestellt hat, und über den FALTER und profil gestern bereits berichteten, liest sich wie ein Strafantrag. (Den Akt können Sie hier als PDF herunterladen.)

Am Pranger steht aber nicht nur eine mutmaßliche Straftat, sondern auch der „neue Stil“, mit dem Sebastian Kurz 2017 für sich warb – und der sich spätestens jetzt als das zu erkennen gibt, was er eigentlich ist: Ausdruck der Arroganz, Geringschätzung und Respektlosigkeit einer zu schnell zu groß gewordenen Truppe juveniler Machtmenschen rund um Kurz gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen. Plakativ vorgeführt wurde das zuletzt etwa von Finanzminister Gernot Blümel, der sich erst nach einem Exekutionsantrag des Verfassungsgerichtshofs und einer Intervention des Bundespräsidenten dazu bequemte, vom Ibiza-U-Ausschuss angeforderte Dokumente vorzulegen – und dann noch in einer Form, die den Rechtsstaat zum zweiten Mal verhöhnte: Ausgedruckt in 30 Kartons.

All das ließ sich die längste Zeit durch wohl inszenierte Settings und wolkige Rhetorik kaschieren; aber jetzt wird der „neue Stil“ von akribisch arbeitenden Anklägern dekonstruiert: Und da findet sich der Name Kurz plötzlich im unangenehmen Umfeld von Begriffen wie Tatort, Tatzeit und Verdachtslage wieder.

„Sebastian KURZ ist verdächtig, am 24. Juni 2020 in Wien als Auskunftsperson vor einem Untersuchungsausschuss des Nationalrates bei seiner förmlichen Vernehmung zur Sache falsch ausgesagt zu haben“ heißt es in der „Mitteilung nach § 50 Strafprozessordnung“, die dem Bundeskanzler am Mittwoch früh unter Aktenzahl 17 St 5/19d zugestellt wurde. Es ist eine Verständigung über die Einleitung eines Strafverfahrens.

Was also war los am Tatort, dem Parlamentsausweichquartier in der Hofburg, in dem der Ibiza-U-Ausschuss im vergangenen Sommer tagte, an diesem Mittwoch, den 24. Juni 2020? Worum geht es genau? Man muss ein wenig ausholen, um die Tragweite dieses Strafverfahrens zu ermessen.

Der U-Ausschuss

Wenige Monate nach der Veröffentlichung des Ibiza-Videos entschloss sich die rot-pink-blaue Opposition, die „Usancen“ der türkis-blauen Regierung zu untersuchen. Bestechung, Postenschacher, Ämterpatronage, Vetternwirtschaft: der Nationalrat wollte es genau wissen. Er setzte sein schärfstes Kontrollinstrument ein, den Untersuchungsausschuss. Der ist keine „Löwingerbühne“, wie ÖVP-Tourismusministerin Elisabeth Köstinger kürzlich suggerierte – und auch kein Tribunal, vor dem es erlaubt sein soll, die Unwahrheit zu sagen, wie es der U-Ausschussvorsitzende Wolfgang Sobotka (ÖVP) kürzlich gefordert hat. Er dient vielmehr auch dazu, einer Minderheit im Parlament die Möglichkeit zu geben, eine wichtige verfassungsmäßige Aufgabe auszuüben: die Kontrolle der Regierung. So will es das System der Checks and Balances in Österreich – der Gesetzgeber kontrolliert die Regierung und stellt ihr Fragen, die wahrheitsgemäß zu beantworten sind. Wie vor Gericht.

Es geht vor dem U-Ausschuss aber wohlgemerkt nicht nur um strafrechtliche Vorwürfe, sondern auch um politische Verantwortung. Alle sollen sehen und lesen, ob die Regierung etwa Steuergeld richtig eingesetzt hat und ob es neuer Gesetze bedarf. U-Ausschüsse sind also auch wichtige Erkenntnismaschinen – nicht zuletzt deshalb, weil die Protokolle der Einvernahmen öffentlich einsehbar sind.


FALTER-Chefredakteur Florian Klenk und Raimund Löw besprechen die Causa auch in unserem Podcast FALTER Radio bzw. hier als Video:


Auftritt Kurz

24. Juni 2020: Sebastian Kurz, Bundeskanzler der Republik Österreich, trägt Mund-Nasen-Maske, als er im Ausweichquartier des Parlaments in der Hofburg eintrifft, wo der Ibiza-U-Ausschuss tagt – das macht es unmöglich, seine Mimik zu lesen. Kurz ist vorgeladen, und zwar zu einem für ihn höchst unangenehmen Thema: der Bestellung der Führungsspitze eines der wichtigsten wirtschaftlichen Instrumente des Landes – der Österreichischen Beteiligungs AG, kurz ÖBAG. (Hier lesen Sie das Protokoll der Befragung des Bundeskanzlers im Untersuchungsausschuss.)

Die ÖBAG, früher hieß sie ÖBIB oder ÖIAG, verwaltet die Anteile der Republik an börsenotierten Unternehmen, einer Pensionskassa und der Bundesimmobiliengesellschaft. Ihr Portfolio repräsentierte mit Stand 31. 12. 2020 einen Wert von 26,6 Milliarden Euro. „Viele der Beteiligungsunternehmen der ÖBAG zählen zu den leistungsstärksten Unternehmen Österreichs. Als Kernaktionär versteht sich die ÖBAG gerade in Krisenzeiten als stabiler Anker und Inputgeber bei der strategischen Weiterentwicklung dieser Leitbetriebe“, heißt es in der Selbstdarstellung der Agentur mit einigem Stolz.

Der Vorstandschef so einer staatlichen Agentur sollte also besonders umsichtig ausgewählt werden – ein transparentes, internationales Hearing nach einer öffentlichen Ausschreibung, das wäre der „neue Stil“. So hatte es Sebastian Kurz versprochen, als er das Ende des rot-schwarzen Proporzes ankündigte. Leistung und Erfahrung sollten zählen und nicht die Freundschaft zu ihm oder das Parteibuch.

Es kam anders. Thomas Schmid, Generalsekretär im Finanzministerium, ein enger Vertrauter und Bewunderer von Kurz, wurde ÖBAG-Chef. Und zwar nicht, weil er mehr Erfahrungen im Management vorzuweisen hat, wie ein von ihm so bezeichneter „Piefke“, der sich auch beworben hatte; sondern weil er zur „Familie“ gehört, wie es der heutige Finanzminister Gernot Blümel in einer Nachricht formulierte.

Sebastian Kurz, so weiß man heute, hatte die Bestellung Schmids hinter den Kulissen höchst persönlich orchestriert. Mehr noch: der Kanzler sorgte sogar dafür, dass auch der Aufsichtsrat der ÖBAG, also die Kontrolleure seines Freundes Schmid von ihm, dem Kanzler, ausgesucht wurden. Er dachte an Ex-Magna-Chef Sigi Wolf. Oder an Karl-Theodor zu Guttenberg, den ehemaligen Wirtschaftsminister Deutschlands, der über seine gefälschte Dissertation gefallen war. „Steuerbar“ sollten vor allem die weiblichen Aufsichtsratsmitglieder sein, darauf kam es an.

Wieso man das heute alles weiß? Weil es in den nach der Aussage von Kurz beschlagnahmten Chats von Thomas Schmid nachzulesen ist, die von der WKStA auf einer Festplatte sichergestellt wurden (Schmid hatte sein Handy vor der Razzia auf Werkseinstellungen gesetzt).

Monatelang hatte Schmid sein Idol Kurz, aber auch dessen damaligen Exekutor, den Kanzleramtsminister Gernot Blümel und den damaligen Finanzminister Hartwig Löger gedrängt, ihn, Schmid zu bestellen. „Keine Sorge! Du bist Familie! Und wir alle brauchen Dich“, beruhigte Gernot Blümel, der heutige Finanzminister seinen Haberer. „Kriegst eh alles, was Du willst“, textete Sebastian Kurz an Schmid. Und Schmid bedankte sich untertänigst: „Dass Du mir diese Chance gibst, mich zu beweisen, ist so grenzgenial! Habe mörder Respekt davor und es wird echt cool. Danke für alles und es taugt mir so in Deinem Team sein zu dürfen!“.

All das schrieben sich die jungen Männer im Frühjahr 2018, noch ehe es überhaupt zur öffentlichen Ausschreibung des ÖBAG-Posten kam. Sie packelten den Posten aus – zum Nachteil anderer, vielleicht besserer Kandidaten, die keine Chance mehr auf den mit 400.000 Euro (plus Boni) dotierten Job und die damit einhergehende Macht hatten.

Und genau diese Form von Postenvergabe wollten Österreichs Abgeordnete untersuchen (anfangs gegen den Widerstand der Grünen, die ihren Koalitionspartner ÖVP schonen wollten; erst der VfGH gab grünes Licht).

Und deshalb luden die Abgeordneten Sebastian Kurz als Auskunftsperson in den U-Ausschuss. Am 24. Juni 2020 hatte er seinen Auftritt. Er legte ihn wie eines seiner Fernsehinterviews an. Ein bisserl charmant, ein bisserl frech, ein bisserl aggressiv.

Kurz konnte damals ja auch noch nicht ahnen, dass all die Chats von Thomas Schmid eines Tages sichergestellt werden würden. Er stellte sich vergesslich, antwortete ausweichend und sagte in manchen Punkten schlicht die Unwahrheit. Zumindest begründet die WKStA die Einleitung ihres Verfahrens so: „Demnach hat Sebastian KURZ im Untersuchungsausschuss tatsachenwidrig die ab Ende 2017 mit dem gemeinsamen Bestreben, MMag. Thomas SCHMID für die ÖVP zum Alleinvorstand der ÖBAG zu nominieren, geführten Gespräche und Telefonate sowie den diesbezüglichen Austausch in Chats mit diesem in Abrede gestellt und behauptet, er sei nur informiert, aber nicht darüber hinaus gehend eingebunden gewesen.“

Im Klartext: Der Bundeskanzler habe die Unwahrheit gesagt (oder sogar gelogen), als er behauptete, über Schmids Bestellung nur am Rande „informiert“ worden zu sein. Aber das ist noch nicht alles. Die WKStA wirft Kurz noch zwei weitere Lügen vor. Er soll auch seine Rolle bei der Auswahl des ÖBAG-Aufsichtsrats, sowie seine Kenntnis einer Postenschacher-Vereinbarung falsch dargestellt haben.

Die Akte Kurz

Der Akt der Staatsanwalt seziert Kurz´ Verhalten in vier Kapiteln. Zunächst stellen die Ankläger die Aussagen des Bundeskanzlers vor dem U-Ausschuss und die Chats gegenüber (den ganzen Akt finden Sie hier):

Abgeordneter Jan Krainer (SPÖ) zu Kurz: „Waren Sie im Vorfeld (in die Bestellung Schmids, Anm.) eingebunden?“

Sebastian Kurz: „Eingebunden im Sinne von informiert, ja.“

Krainer: „Haben Sie sich für ihn eingesetzt?“

Kurz: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich für ihn eingesetzt habe, aber ich habe ihn für qualifiziert gehalten“.

Abgeordnete Stephanie Krisper (NEOS): „Haben Sie auf die Bestellung Schmids zum Vorstand der ÖBAG Einfluss genommen oder zumindest versucht, auf die Bestellung Einfluss zu nehmen?“

Kurz: „Die Entscheidung über die Bestellung liegt beim Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat hat diese Entscheidung getroffen“ (…) „Ich habe nicht den Aufsichtsrat beeinflusst“.

Abgeordneter Helmut Brandstätter (NEOS): „Ist die Planung, dass Schmid Chef der ÖBAG wird von Ihnen? Von wem ist das ausgegangen?“

Kurz: „Von mir ist das nicht ausgegangen, aber soweit ich mich erinnern kann, hat er mich irgendwann davon informiert, dass er sich bewerben wird.“

Brandstätter: „Haben Sie mit ihm nie darüber gesprochen, dass er das werden könnte?“

Kurz: „Nein, es war allgemein bekannt, dass ihn das grundsätzlich interessiert“.

Kurz hat also ganz klar ausgesagt: er habe Schmids Bestellung und die Bestellung des Aufsichtsrats weder angeschoben, noch betrieben. Er sei bloß davon „informiert“ worden. Ein passiver Beobachter, mehr nicht. Selbst eine Absprache zwischen FPÖ und ÖVP will er nicht gekannt haben.

Die Beweise der WKStA

Die Chats belegen ein anderes Bild. Akribisch dokumentiert die WKStA, wie Kurz in die Bestellung von Schmid und des späteren Aufsichtsratspräsidenten Helmut Kern eingeweiht war – ja, diese Postenvergabe im Grunde entschieden hatte.

Das ist die Chronologie der Ereignisse: Im November 2017 beginnt der Umbau der ÖBIB zur ÖBAG. „Cooler Deal für ÖVP“, schreibt Schmid damals an Kurz und erzählt ihm, dass die FPÖ in den Regierungsverhandlungen der ÖVP den ÖBAG-Vorstandsposten zugesteht. Im Dezember wird auch dokumentiert, dass Kurz mitentscheidet, wer ÖBAG-Chef wird. Schmid: „Sebastian will, dass ich noch (im Finanzministerium, Anm.) bleibe“, textet Schmid an den FPÖ-Verhandler Arnold Schiefer.

Dann kommt Bewegung in den Postenschacherprozess. Im Februar 2018 kriegt der Kurier Wind davon, dass Schmid ÖBAG-Chef werden könnte. Für Schmid wäre ein Bericht katastrophal, er hat Angst, verbrannt zu werden. Also tippt er eine SMS an Kurz. Er möge „dem brandi (der damalige Kurier-Chef und heutige Neos-Abgeordnete Helmut Brandstätter) ausreden mich zu nennen und ihm sagen, dass das ein Blödsinn sei“ (Anm.: die Rechtschreibung der Chats wurde beibehalten).

Kurz kommt der Bitte nach: „Ich ruf ihn gern an, bin nur nicht sicher ob das nützt?!“. Schmid ruft dann selbst an, bedankt sich anschließend aber dennoch bei Kurz: „Dich zu haben ist so ein Segen! Es ist so verdammt cool jetzt im BMG! Danke Dir total dafür!!“. Und: „Damit ist glaube ich druck auf mich hoffentlich weg“.

Die Staatsanwaltschaft wertet diese Konversation als Beweis gegen Kurz. Denn: Weshalb sollte der Bundeskanzler gegen den Bericht einer „noch nicht ausgeschriebenen Stelle einer nicht existenten Gesellschaft, die aufgrund eines noch nicht beschlossenen Gesetzes errichtet werden sollte“ intervenieren.

In der Folge gibt es immer wieder Treffen zwischen Kurz, Schmid und Blümel. Offenbar basteln die drei an der ÖBIB. Der heutige Finanzminister textet Schmid im August 2018: „Hab dir heute deine öbib gerettet“. Ein Monat später, im September 2018, wird es dann quasi offiziell. Der Trend vermeldet Schmids Aufstieg zum ÖBAG-Chef. Im Oktober 2018 verabreden sich Kurz und Schmid in einem Steak-Haus, um Details zu besprechen. Und im Dezember 2018 meldet Blümel: „ÖBAG vom NR beschlossen. Auch mit den Stimmen der SPÖ. Schmid AG fertig“.

Schmid textet zurück: „Habe noch keinen Aufsichtsrat“. Offenbar sieht er sich schon als Vorstand der Agentur.

Wieder wird Kurz aktiv und bleibt nicht nur „informiert“, wie er es kleinredet: „Kriegst eh alles, was du willst“, schreibt er an Schmid und nennt ihn „Aufsichtsratssammler“. Und Schmid schmeichelt wieder zurück: „Ich bin so glücklich :-))). Ich liebe meinen Kanzler“.

Die Staatsanwaltschaft fasst diese und viele weitere Chats so zusammen: die Aussagen von Kurz vor dem U-Ausschuss, wonach er nur informiert worden sei, seien „objektiv unrichtig“.

Aber es geht noch weiter. Auch über die Besetzung des Aufsichtsrats informiert Kurz den U-Ausschuss falsch. Erinnern wir uns noch einmal an seine Aussage: „Ich möchte festhalten, dass die Entscheidung, wer im Aufsichtsrat der ÖBAG sitzt, nicht ich als Bundeskanzler treffe, sondern wenn, dann der Finanzminister beziehungsweise das Nominierungskomitee.“

In Schmids Kalender findet sich für den 5. September 2018 allerdings folgender Eintrag: „17:45 HBK, KC Stv. Bonelli im BKA + TS“ – im Klartext: Eine Besprechung, an der er Kurz und sein Sektionschef Bernhard Bonelli teilnehmen.

Das Gespräch zieht sich offenbar so lange hin, dass Schmid ein Abendessen verpasst, zu dem er eingeladen ist. Um 20:50:36 Uhr schreibt ihm einer der Gäste: „Kommst du noch zum GS Dinner?“ Antwort von Schmid, elf Sekunden später: „Ich schaffe es nicht mehr“. Ergänzung eine weitere halbe Minute danach: „Sitzen wegen der AR“ – also: wegen der Aufsichtsräte.

Am 11. Oktober 2018 tauscht sich Schmid mit dem Pressesprecher des damaligen Finanzministers Hartwig Löger über einen Zeitungsbericht aus, in dem über die Besetzung des Aufsichtsrats der künftigen ÖBAG (die zu diesem Zeitpunkt noch ÖBIB heißt) spekuliert wird. „ÖBIB ist jetzt Chef Sache. Also kurz“, schreibt der Pressesprecher.

Am 11. Dezember schickt Schmid eine Nachricht an Kurz. Darin teilt er dem Kanzler mit, dass die ÖBAG im Parlament abgesegnet wird. „Können wir bitte bald wegen des Aufsichtsrats dort reden! Ich werde auch nix wegen des AR Chefs sagen. Habe nur ein paar bitten wegen der anderen Aufsichtsräte und Anmerkungen betreffend Vorstände.“

Es dauert keine drei Minuten, bis Kurz antwortet: „Lieber Thomas! Gratulation. Ich lasse Termin ausmachen. AL“

Dieser Termin findet am 22. Dezember 2018 statt, verläuft aber nicht nach dem Geschmack von Schmid. Kurz befürchtet offenbar, dass die ÖBAG zu teuer wird, wenn er allen Personalwünschen nachgibt. „Er überlegt noch … Aber er ist schon mühsam“, beklagt sich Schmid anschließend bei einer Mitarbeiterin. „ich kann echt mit SW (gemeint ist Ex-Magna-Chef Siegfried Wolf, der ebenfalls als Kandidat gehandelt wird) auch leben … Solange ich überall den AR chef machen kann … Kurz scheisst sich voll an … Zu viele Leute … Obag zu teuer“

Ein paar Wochen später, am 10. Jänner 2019 will ein Kabinettsmitarbeiter aus dem Finanzministerium von Schmid wissen: „Haben wir eine(n) AR Vorsitzende(n)?“ Antwort: „Entscheidung heute … Letztes Gespräch mit Kurz“

Vier Tage danach liegt Schmid Finanzminister Löger wegen des Aufsichtsrats in den Ohren. Der teilt ihm mit, er habe seinen „Vorschlag mit Sebastian wie besprochen abgestimmt.“

Auch gegen Bernhard Bonelli, den Kabinettschef von Kurz, wird ermittelt. Ihn befragten die Abgeordneten im U-Ausschuss, ob er etwas über die Bestellung des ÖBAG-Aufsichtsrats und die Kriterien dafür mitbekommen habe. Antwort: „Das liegt in der Zuständigkeit des Finanzministeriums. Ich gehe davon aus, dass die Personen nach Qualifikation ausgewählt werden.“ Er lässt sich zu keiner Aussage darüber hinreißen, ob Kurz mitgeredet hat: „Es war eine Entscheidung des Finanzministers, und nachdem er die Entscheidung getroffen hat, hat er auch den Bundeskanzler darüber informiert.“

Zusammengefasst: Bonelli erweckt den Eindruck, Finanzminister Hartwig Löger habe Schmid ohne Involvierung des Bundeskanzlers nominiert, Kurz sei erst nachträglich darüber in Kenntnis gesetzt worden.

Die Staatsanwaltschaft geht allerdings davon aus, „dass sich Mag. Bernhard BONELLI, MBA und Sebastian KURZ bereits im Herbst 2018 mit dem Thema Aufsichtsräte beschäftigten“. Auch Chatnachrichten des damaligen Finanzministers Hartwig Löger „zeigen deutlich auf, dass die Besetzung des ÖBAG Aufsichtsrates von Sebastian KURZ mitgetragen werden musste“.

Und dann weist die Anklagebehörde noch darauf hin, „dass sogar die Kabinettsbesetzungen im Finanzministerium – das heißt die Auswahl der engsten persönlichen Mitarbeiter des Ministers – von Sebastian KURZ und der Parteispitze abgesegnet werden musste.“ Soll heißen: Dass der Kanzler bei der Vergabe eines so wichtigen Jobs wie des ÖBAG-Aufsichtsrats tatenlos zugesehen habe, sei alles andere als wahrscheinlich.

Fazit in der Beweiswürdigung: Die diesbezüglichen Aussagen von Bonelli und Kurz seien „objektiv falsch und unvollständig“. Bonellis Behauptung, er könne sich nicht genau daran erinnern, ob es zwischen den Regierungsparteien Vereinbarungen über die Bestellung des Alleinvorstandes gegeben habe, sei „objektiv falsch“ – ebenso wie die Aussage, er wisse „leider“ nicht, wer die Personalentscheidungen für das Kabinett des Finanzministers getroffen habe.

Zudem vermutet die Staatsanwaltschaft aufgrund einer vergleichenden Analyse der Aussageinhalte, dass sich Kurz, Bonelli und Blümel vor der Aussage im U-Ausschuss „gemeinsam abgesprochen und vorbereitet“ hätten. Schlimmer noch: „Neben diesen Hinweisen auf Absprachen zeigte eine Aussagenanalyse der inkriminierten Passage, dass mehrere sogenannte Phantasiesignale und demgegenüber kaum Realitätskriterien vorliegen.“ Mit anderen Worten: es gab Absprachen.

Man muss aber nicht einmal lügen, um die Verpflichtung zu einer wahrheitsgemäßen Aussage vor dem U-Ausschuss zu verletzen und sich strafbar zu machen: „Auch das Verschweigen erheblicher Tatsachen erfüllt den Tatbestand, selbst wenn der Zeuge nicht ausdrücklich danach befragt wurde“, heißt es in der rechtlichen Beurteilung, die der Mitteilung über die Einleitung des Verfahrens angeschlossen ist. Darauf wurden Kurz und Bonelli vom Verfahrensrichter auch hingewiesen.

Die Staatsanwaltschaft hält fest, dass sich „immer deutlicher ergibt, dass Sebastian Kurz der wesentliche Entscheidungsträger für die Besetzung des Aufsichtsrats war.“

Sie hat, das zeigen die 58 Seiten, aber nicht nur die Aussagen vor dem Ausschuss mit den Chats verglichen – sie hat auch noch die rhetorischen Tricks von Kurz offengelegt. Der ermittelnde Staatsanwalt hat ein Standardwerk der Kriminologie gelesen: „Tatsachenfeststellungen vor Gericht“. Dort heißt es: „Je abstrakter die Aussage, je allgemeiner und unanschaulicher die Ausdrucksweise und je herkömmlicher der geschilderte Handlungsablauf, desto misstrauischer sollte man werden“.

Sätze wie „Es war allgemein bekannt, dass ihn (Schmid) das grundsätzlich interessiert”, oder „Man trifft in der Regierung täglich irgendwelche Vereinbarungen“ seien reine Ablenkungsmanöver; genau wie „Gegenangriffe oder Gegenfragen zur Vermeidung einer inhaltlichen Antwort“.

Wie es nun weitergeht? Die WKStA muss Kurz, Bonelli, Schmid, Löger, Blümel und all die Aufsichtsräte vernehmen. Das wird Wochen, wenn nicht Monate dauern. Strafrechtsexperten gehen davon aus, dass die Beweislage schon jetzt so dicht ist, dass Kurz eine Anklage droht. Dann wird ein Gericht feststellen, ob er schuldhaft gehandelt hat. Vielleicht konnte er sich ja wirklich nicht mehr erinnern. Er wäre nicht der erste ÖVP-Politiker, der mit dem Argument der Vergesslichkeit an der Macht geblieben ist und sich als Ziel einer „Kampagne“ wähnte.

Genau als das versuchte sich Kurz gestern in der ZiB 2 bereits zu stilisieren – und blieb auf die Frage von Armin Wolf, ob er bei einer Verurteilung zurücktreten würde, eine klare Antwort schuldig. Nur soviel: Er habe ein reines Gewissen.

Einen Vorteil hat die neue Situation für Kurz jedenfalls: Er hat ab sofort auch ganz offiziell die Lizenz, vor den Justizbehörden zu lügen. Seit gestern ist der österreichische Bundeskanzler Beschuldigter eines Strafverfahrens. Er unterliegt als solcher nicht mehr der Wahrheitspflicht in seinem Verfahren.


Korrektur: In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, dass Schmids Intervention im Kurier gelungen sei; das stimmt nicht, wir haben den Satz gestrichen.

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