Eine Gesellschaft in der Intensivstation

Die Impfung ist vielleicht auch der Unterschied zwischen Leben und Tod. Wer das bis jetzt nicht verstanden hat, der will es nicht verstehen.

Harry Bergmann
am 21.12.2021

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Das "Gedenk-Lichtermeer" am vergangenen Sonntag vor dem Heldentor bei der Wiener Hofburg. Foto: APA/HANS PUNZ/APA-POOL

Rückflug Tel Aviv – Wien. Morgenflug. Was heißt da Morgenflug, Nachtflug! Ich bin um 3:00 aufgestanden und um 4:00 am Flughafen. Israelischer Security Check. Immer die gleichen Fragen, immer gleich bohrend. Eine Frage wird nicht gestellt, die nach dem negativen PCR Test, der aber ausdrücklich verlangt wurde. Dann eben nicht.

Ich sitze mit leerem Blick in einem leeren Flugzeug. Ich merke, dass die Message Control von Hirn zu Mund nicht funktioniert. Ich will „ein Glas heißes Wasser“ bestellen, höre mich aber sagen „ein heißes Glas“. Die Flugbegleiterin – die mit den für diese verschlafene Zeit viel zu roten Strümpfen – braucht gar nicht so entgeistert zu schauen, ich merke selbst, dass da was nicht stimmt. Ich versuche es noch einmal. Wieder „ein heißes Glas, bitte“. Die Flugbegleiterin, die nur so heißt, aber eben keine richtige Begleiterin ist, die einen auch dann versteht, wenn es schwer ist, die geht einfach weiter. Dann eben nicht.

Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt? Ach ja, ich weiß schon. Als ich aus diesem Zustand der Halbbewusstlosigkeit in eine kurze luzide Phase komme, denke ich über mein Leben nach. Eigentlich nicht nur über mein Leben, sondern über unser Leben. Über unser aller Leben in dieser Zeit. Da kommt mir dieser Satz in den Sinn: „Du mögest in interessanten Zeiten leben“. Ich habe nie verstanden, warum diese chinesische Redewendung kein gutgemeinter Wunsch, sondern ein Fluch ist. Jetzt verstehe ich es. Wir leben in interessanten Zeiten. Und wir sehnen jene Zeiten zurück, die weniger „interessant“, weniger aufgeregt, weniger aggressiv, weniger sorgenvoll und angsterfüllt waren.

Und jetzt werden die Zeiten noch interessanter. Es steht nämlich nicht der Weihnachtsmann vor der Tür, sondern Omikron. Und wenn es doch der Weihnachtsmann ist, dann ziemlich sicher mit der Omikron-Variante infiziert.

Omikron lässt sich – rein mathematisch – leicht erklären. Man nimmt eine x-beliebige Infektionszahl und multipliziert sie alle 3 Tage mit 2 oder in der fortgeschrittenen Form alle 2 Tage mit 3. Ich neige ja meistens zur Übertreibung, aber in diesem Fall haut es schon ganz gut hin.

Ich bin das genaue Gegenteil der „Expertn und Expertnnen“ (kein Tippfehler), wie sie unser neuester Bundeskanzler, nervtötend, im Schnitt zweimal in jedem Satz zitiert, und auch das Gegenteil von Verschwörungstheoretikern, aber ich denke mir mittlerweile, dass wir es alle, früher oder später, kriegen. Der Unterschied zwischen dreimal (und vielleicht sogar bald viermal) geimpft und gar nicht geimpft könnte – ich sage vorsichtig könnte – wie der Unterschied zwischen einer schweren Verkühlung zuhause vor dem TV-Gerät und einer schweren Krankheit in der Intensivstation am Beatmungsgerät sein. Und vielleicht auch der Unterschied zwischen Leben und Tod.

Wer das bis jetzt nicht verstanden hat, der will es nicht verstehen. Die Psychiaterin Heidi Kastner schreibt in ihrem Buch „Dummheit“: „Menschen können sozusagen unter der Hand, ad hoc, verblöden, wenn sie etwas nicht verstehen wollen, weil das Verstehen Angst- oder Schuldgefühle auslösen könnte oder ein bestehendes prekäres neurotisches Gleichgewicht gefährden würde.“ Daher sind Impfgegner keinem Argument zugänglich, und die Forderung, der andere Teil der Gesellschaft, also die Impfbefürworter, müsste mit ihnen im Dialog bleiben, ist wohl nichts als vergebene Liebesmüh.

Und was heißt Dialog? Haben Sie Impfgegner in der Familie oder im Freundeskreis? Wenn ja, werden Sie mir doch nicht einreden wollen, dass sie mit dieser Person kein Problem haben zu kommunizieren, oder dass nichts zwischen Ihnen steht. Wenn Sie sagen „Ich habe kein Problem“, dann bewundere ich Sie und erkenne an, dass Sie wesentlich mehr mit Mutter Theresa gemeinsam haben, als ich.

Daher verstehe ich auch die Impfpflicht, so problematisch sie auch sein mag. Sie ist wohl die einzige Möglichkeit, diese rund eine Million tickende Zeitbomben zu entschärfen.

Aber die Impfung ist nicht unser größtes Problem. Das kriegen wir schon irgendwie hin. Unser größtes Problem sind wir selbst. Wir als Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die eigentlich selbst in die Intensivstation muss. Lebensbedrohlich erkrankt an einem Riss, der mitten durch den Organismus geht.

Ich habe einen guten Freund, der immer wieder die Einheit beschwört: „Nein, wir sind nicht gespalten. Die allermeisten sind auf der richtigen Seite.“ Ich kann ihm beim besten Willen nicht zustimmen. Die Spaltung einer Gesellschaft bedeutet ja nicht, dass sie in zwei gleich große Teile zerfällt, wie etwa in der USA in „gegen Trump“ und „für Trump“.

„Ja, aber schau doch. Das Lichtermeer!“ höre ich meinen Freund sagen. Ja, das Lichtermeer war großartig, aber ist es nicht auch ein Zeichen der Spaltung? Das ist halt der „Yes, we care“- Teil. Und kaum ist das Lichtermeer vorbei, wird schon aufgerechnet. Wieviele Leute waren da und wieviele Leute waren bei der Anti-Corona -Demo. Wenn das nicht bedeutet, dass wir in zwei Lagern stehen, dann weiß ich auch nicht.

Und die Politiker? Sie sind mit der Situation überfordert. Okay, Politiker auf der ganzen Welt sind mit der Situation überfordert. Wir haben ganz normale Menschen gewählt und keine Hellseher. Wir haben aber auch keine aufgeblasenen Egomanen gewählt, die nur daran denken, was Ihnen ins momentane Konzept passt, die nur denen zuhören, die sagen, was ihnen gefällt und die duckmäuserisch darauf warten, dass irgendjemand anderer ihnen die so notwendigen Entscheidungen abnimmt. Diese Politiker holen uns ziemlich sicher nicht aus der Intensivstation heraus und bei denen, die mit uns reden und für und mit uns kämpfen, wieviele immer das sein mögen, bei denen möchte ich mich zumindest einmal im Jahr bedanken.

Für die Länge der Kolumne entschuldigt sich

Ihr Harry Bergmann


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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