Die Demokratie und der Umgang mit Gefahren
Kirstin Breitenfellner in FALTER 16/2021 vom 23.04.2021 (S. 20)
Weder Individuen noch Gesellschaften sind in der Lage, im Angesicht von Risiken rational zu handeln. In der Postmoderne sah man Risiko als ein bloßes Konstrukt. Diesen unernsten, antirealistischen Zugang weisen Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld in ihrem Buch „Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren“ zurück. Denn in Konfrontation mit einer realen Gefahr, wie sie Covid-19 darstellt, brauche es eine vernünftige, aber auch ethisch akzeptable Risikopraktik.
Der Philosoph und ehemalige SPD-Kulturstaatsminister Nida-Rümelin ist spezialisiert auf die Theorien der Entscheidung und der praktischen Vernunft sowie stellvertretender Vorsitzender des deutschen Ethikrats. Er hat sich immer eingemischt, so auch in der Debatte über den Umgang mit der aktuellen Pandemie. Dabei fühlte er sich nicht immer richtig verstanden – wohl mit ein Grund, dieses Buch zu schreiben, in dessen Anhang Nida-Rümelins Reden und Interviews des letzten Jahres versammelt sind.
Zur Seite stand ihm bei seiner Replik an die Öffentlichkeit seine Frau, die Filmtheoretikerin Nathalie Weidenfeld, die diese Einführung in die Risikotheorie mit Material, vor allem aus Filmen, unterfüttert hat, mit einer Betonung auf Katastrophenfilme. Dieser Input tut dem Buch gut, macht es anschaulicher und damit auch für philosophische Laien verständlicher.
Risiken sind mögliche Gefahren, die sich durch Handeln beeinflussen lassen, lautet eine erste Definition. Die Einschätzung von Risiken setzt ein realistisches Weltbild voraus, denn schließlich gibt es ja auch unbegründete Ängste, Phobien und sogar Todessehnsucht. Bei der innergesellschaftlichen Verteilung von Risiken geht es um Zumutbarkeit und Gerechtigkeit, unter Berücksichtigung des möglichen Schadens und der Wahrscheinlichkeit von dessen Eintritt.
Unser Rechtssystem erlaubt es, sich selbst in Risikosituationen zu bringen, etwa durch Sport oder Alkoholkonsum, und sogar, andere einem Risiko auszusetzen (Stichwort: Autoverkehr). Das beruht auf gesellschaftlichem Konsens, der jederzeit neu ausdiskutiert werden kann (Stichwort: Nikotin). Zwischen individuellen Rechten und kollektiver, etwa gesundheitlicher, Optimierung bestehe in demokratischen, deontologischen Rechtsordnungen demnach ein nicht auflösbarer Konflikt, betonen die Autoren.
„Ohne autonomiesichernde Interaktionen im Alltagsleben verliert die Demokratie an normativer Substanz und riskiert am Ende ihr rechtliches Fundament. Deswegen ist die Ermächtigung des Staates zu Freiheitseingriffen so restriktiv wie nur möglich zu gestalten.“ Aus diesem Grund müssten Maßnahmen, die in Grundrechte eingreifen, gegenüber den Bürgern gerechtfertigt werden bzw. diese dazu frühzeitig Stellung nehmen, betonen Nida-Rümelin und Weidenfeld, die das hiermit tun. Dabei sei es notwendig, sich genügend Raum für die Möglichkeit zu lassen, „dass alle Überzeugungen irrtümlich sein können“, und also offen zu bleiben für Argumente. Was jedenfalls nicht angehen könne: auf das eigene, kritische Urteil zu verzichten, um verbliebene Gewissheiten nicht zu gefährden, wie es in der Covid-19-Debatte häufig geschehe.
Der letzte Teil des Buchs geht auf die bundesdeutschen Maßnahmen ein, die wie hierzulande mit starkem Konformitätsdruck durchgesetzt wurden. Konkret hat sich Nida-Rümelin früh für die Eindämmung der Infektionen nach südkoreanischem Vorbild ausgesprochen statt der in Europa und so auch in Österreich praktizierten Verzögerung in Form einer nicht enden wollenden Reihe von Lockdowns.