Hat die Corona-Pandemie jemals ein Ende? Was wir über Omikron wissen.

Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 586

Armin Thurnher
am 29.11.2021

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Über die neue Corona-Variante berichtete Epidemiologe Robert Zangerle heute. Wie Varianten zu ihrem Namen kommen, wie das Innsbrucker Labor Omikron identifizierte, was das Besondere der südafrikanischen Situation ist, ob die Varianten überhaupt dort entstand, wann ein angepasster Impfstoff kommen könnte und warum Auffrischungs-Impfungen besonders wichtig sind. A. T.

»Mit harten und mit lockeren Maßnahmen versucht Österreich gerade, eine fulminante Delta-Welle zurückzudrängen. Es ist bereits die vierte „Welle“. Als wäre das nicht schlimm genug, teilten am Donnerstag, den 25. November, der Gesundheitsminister und Wissenschaftler aus Südafrika der Welt mit (hier und hier), sie hätten soeben eine neue Variante entdeckt, die das Potential haben könnte, die Virusvariante Delta zu verdrängen.

Weiters berichteten sie, dass diese Variante eine bis dahin ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen aufwiese, deren Folgen für die Immunität, sei es durch Impfung oder nach einer Infektion, zwar unklar, aber möglicherweise gefährlich seien. Einer der Präsentatoren wies gleich darauf hin, dass die WHO am nächsten Tag diese Variante zu einer Variante of Concern (VOC) machen werde. Das bedeutet auch die Benennung mit einem griechischen Buchstaben. Im Nu war sich Twitter einig, dass nach den bisherigen zwölf dies Nu, also der nächstfolgende 13. Buchstabe sein würde. WHO wählte jedoch den 15. Buchstaben Omicron oder Omikron für diese Variante. Berichten zufolge, weil Nu leicht mit dem englischen Wort »new« verwechselt werden könne und Xi ein zu häufiger Nachname sei (Xi ist zwar in China und in Ländern mit Han-chinesischer Bevölkerung gebräuchlich, aber zumindest in China kein sehr häufiger Name), wodurch man die eigenen Leitlinien (Diskriminierungsverbot) für die Benennung neuer Krankheiten verletzt hätte.

Für die Benennung der Varianten von SARS-CoV-2 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Bekanntgabe am 31. Mai 2021 ein eigenes Benennungssystem eingeführt, das ausgeschriebene Namen von Buchstaben des griechischen Alphabets verwendet. Weiterhin gibt es die wissenschaftlichen Bezeichnungen der Varianten. Die Bezeichnungen nach PANGO-Nomenklatur bestehen aus einem oder mehreren Buchstaben am Anfang, gefolgt von – und jeweils getrennt durch Punkte – ein oder mehreren, in der Regel jedoch nicht mehr als drei angehängten Nummern, die die letzten Verzweigungspunkte in der Abstammungslinie der Virusvariante bezeichnen, soweit sie in Pangolin (Phylogenetic Assignment of Named Global Outbreak Lineages) erfasst sind.

Ein anderes Schema, das dasselbe Ziel verfolgt, listet sie im Nextstrain-System auch als Zahlen in Kombination mit Buchstaben. Nextstrain ist eine Zusammenarbeit von Forschern hauptsächlich aus Seattle und Basel und stellt eine Sammlung von Open-Source-Tools zur Visualisierung der Genetik hinter der Ausbreitung von Virusausbrüchen bereit. Mit Nextstrain lässt sich in Echtzeit verfolgen, wie sich ein Virus verändert, das heißt, welche Mutationen es während der Ausbreitung ansammelt.

Wie wurde Omikron gefunden? Das private Labor Lancet („Pathology without Borders“) in der nördlichen Provinz Gauteng in Südafrika bemerkte, dass beim Nachweis von SARS-CoV-2 in der Routine PCR bei positiven Proben das S(pike) Gen, das Gen für das Hüllenprotein, fehlte (S Gen Target Failure „SGTF“). Daraufhin sequenzierten sie acht von diesen Proben und fanden dabei ein ungewöhnliches Virus mit einer nie dagewesenen Zahl an Mutationen, auch im S Gen. Auch zusätzlich die Deletion an den Codons 69 und 70, wie es auch bei Variante Alpha der Fall war, sodass das S Gen nicht nachgewiesen werden kann. Das Lancet Labor verständigte am Nachmittag des 23. November das Network for Genomics Surveillance in South Africa, das daraufhin auf ähnliche Diskrepanzen in der PCR achtete und sie auch fand. Etwa 100 solcher Proben vom 14.-16. November (Beginn des Anstiegs an Infektionen in Gauteng) wurden innerhalb von 24 Stunden sequenziert. Wiederum erschien das Virus mit den zahlreichen Mutationen. Schockiert wandten sich die verantwortlichen Wissenschaftler an den Gesundheitsminister. Gleichzeitig wurde auch von Sequenzierungen von Sars-CoV-2, die Omikron entsprachen, aus Botswana und aus Hongkong berichtet.

In Österreich und den meisten europäischen Ländern läuft die Durchführung der PCR anders ab, weil die hier verwendeten PCR-Kits nur mehr selten das S Gen zum initialen Nachweis von SARS-CoV-2 verwenden. Technisch ist das nicht unkompliziert. Im Prinzip wird nach einer positiven Probe versucht, mit einer weiteren PCR spezifische Mutationen zu finden, z.B. den Nachweis der Mutationen N501Y und E484K im S Gen, aber auch zahlreicher anderer. Bereits ab heute sind kommerzielle Kits zum Nachweis von typischen Mutationen von Omikron erhältlich, aber natürlich sind diese noch nicht zertifiziert. Insgesamt erinnert die Laborsituation an die Jahreswende 2020/2021. Die Virusvariante Alpha hat z.B. die Mutation N501Y, wurde sie nachgewiesen, bestand Verdacht auf die Variante Alpha. Bei mehr als 99 % Dominanz von Delta weist sie nun auf Omikron hin.

Das sehr wache Virologie Labor der Medizinischen Universität Innsbruck berichtete gestern von einem „auffälligen“ PCR-Test bei einer Person aus dem Bezirk Schwaz. Diese Person kehrte vor wenigen Tagen aus Südafrika zurück. So eine Konstellation, typische Mutation(en) wie bei der Omikron Variante und eine Reise ins südliche Afrika weist derzeit, bereits vor der Sequenzierung, eine sehr hohe Prätestwahrscheinlichkeit auf. Verdachtsfälle müssen natürlich bestätigt werden, d.h. sequenziert werden, um sicher zu wissen, ob es sich um Omikron handelt. Das geschah in Innsbruck umgehend, und die Sequenzierung des gesamten Virus verlief ziemlich flott (unter 10 Stunden!). Chapeau! Resultate dürfen nur vom Staat autorisierte Labors bekannt geben.

Wie gut können Antigentests eine Infektion mit der neuen Corona-Variante Omikron erkennen? Das Bild von drei verschiedenen Schnelltests von Proben des ersten Falles einer Infektion mit der Omikron Variante in Deutschland teilte die Virologin Sandra Ciesek auf Twitter. Dabei wurde der positive Befund von Tests von drei großen Herstellern, Roche, Siemens und Flowflex, gezeigt. Durchgeführt wurden sowohl ein Nasen- als auch ein Rachenabstrich. (Antigentests erkennen die Infektion mit Omikron, können aber nicht zwischen Alpha, Beta, Delta und Omikron unterscheiden.)

Zurück zum südlichen Afrika: Südafrika hat bei eine Bevölkerung von 58 Millionen Einwohnern bisher offiziell 90.000 Covid-Todesfälle erfasst, allerdings beträgt die Übersterblichkeit während der Pandemie 230.000 Verstorbene. Ende Oktober/Anfang November hatte Südafrika eine geringes Infektionsgeschehen. Die Zahl der täglich Verstorbenen lag jeweils unter 50 und die effektive Reproduktionsrate Reff für die Deltavariante lag am 17. Oktober bei 0,82. Diesen niedrigen Ausgangswert bedenkend, muss man Meldungen wie „In den betroffenen Regionen in Südafrika hat sich das Virus rasend schnell ausgebreitet  “ einordnen. In der folgenden Grafik sind die erfassten Fälle Südafrikas und die Verteilung der Varianten im Gesamtverlauf der Pandemie seit März 2020 dargestellt. Man muss schon genau hinschauen, um die kleine, aber sehr steile rote Zacke (70%) mit violettem Anstrich (30%) zu sehen.

Der Anstieg der neuen Fälle ging also bei geringer Zirkulation der Deltavariante vor sich und konzentriert sich auf die nördliche Provinz Gauteng. Bei einem derartig niedrigen Ausbruchsgeschehen können Verzerrungen passieren, weil Zufälle eine überproportionale Rolle spielen können. So wurde im Sommer 2020 die Variante (EU1) identifiziert, die sich von Spanien aus in ganz Europa rasant ausgebreitet hat. Selbst als Länder empfahlen, nicht mehr nach Spanien zu reisen, war EU1 zu diesem Zeitpunkt leider schon außerhalb Spaniens. Es reiste also auch zwischen anderen europäischen Ländern hin und her. EU1 hat gezeigt, dass sich eine Variante rasch ausbreiten kann, ohne ansteckender sein zu müssen. Auf solche „Founder effects“ könnten sich sukzessive Superspreading Events setzen, sodass der Übertragungsvorteil einer neuen Variante gar nicht so riesig sein muss.

Eine Variante, die sich unter gewissen Bedingungen verbreitet, muss sich nicht in der gleichen Art auf der ganzen Welt durchsetzen. Einschränkend muss hier ergänzt werden, dass in den anderen Provinzen Südafrikas das Infektionsgeschehen auf sehr niedrigem Niveau langsam zunimmt (in der Grafik gar nicht wahrnehmbar!), aber dass im Hintergrund Omikron bereits beginnt, sich gegen Delta durchzusetzen. Dieses Wissen stammt nicht von Sequenzierungen, hier wären dann durchaus Selektionsartefakte zugunsten der Omikron Variante zu diskutieren, nein, dieses Wissen stammt aus PCR Daten („SGTF“).

Gauteng ist das wirtschaftliche Zentrum Südafrikas mit vielen Minen und der Metropole Johannesburg, erwirtschaftet mit 12 Millionen Einwohnern ein Drittel des Bruttonationalprodukts von Südafrika und 10 Prozent von ganz Afrika. Die Netto-Immigration in diese Provinz betrug zwischen 2016 und 2021 500 000 Personen. Gauteng hat also einen „pull“ Faktor, die größte Gruppe stammt aus den Nachbarstaaten, aber auch aus den ländlichen Provinzen Eastern Cape (EC), Limpopo (LP) und KwaZulu-Natal (KZN). Die Provinz Gauteng, das Hubei Afrikas? Aber im Gegensatz zu Hubei haben die Nachbarregionen außerhalb Südafrikas, mit der Ausnahme Botswana, keine Surveillance auf dem Niveau von Gauteng und kaum die Möglichkeiten zur Sequenzierung. Das macht es noch schwerer, den Ursprung dieser Variante zu lokalisieren. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass er außerhalb Gautengs passierte. Die ersten Infektionen mit der Omikron Variante wurden bei vier ausländischen Diplomaten in Botswana festgestellt, die am 7. November einreisten und beim Test zur Abreise am 11. November positiv getestet wurde. Keine 14 Tage später stellte sich eine Infektion mit Omikron heraus.

Die Provinz Gauteng ist deshalb als Ursprungsort von Omikron gar nicht besonders wahrscheinlich. Vor allem wenn man sich die phylogenetische Analyse von Omikron anschaut, fällt die rechnerische Länge (rote Linie zeigt „long branch“ an) des Abstandes der Sequenzen von Omikron mit den nächsten Nachbarn/Verzweigungen auf. Sie geht über ein Jahr bis in das Frühjahr 2020 zurück. So eine extrem lange Distanz (mathematische Genetik) würde bedeuten, dass das Virus in dieser ganzen Zeit in einer Region mit schlechter Surveillance zirkulieren hätte müssen: Das passierte aber sicher nicht in Südafrika, mit der dortigen Surveillance auf sehr hohem Niveau wäre das aufgefallen. Außer dieses Virus entstand kontinuierlich bei einem chronisch mit SARS-CoV-2 infizierten Patienten.

Eine chronische Infektion mit der Entwicklung von Virusvarianten innerhalb eines Patienten mit Mutationen, die dem Immunsystem ausweichen („Escape“) wurde bisher in einem Patienten mit Blutkrebs (B-Zell Lymphom)  und bei einem Patienten mit weit fortgeschrittener HIV-Infektion und Therapieversagen  beschrieben. Ein solches Konzept greift Moritz Gerstung, Bioinformatiker der Universität Heidelberg, auf.  An und für sich zeichnen sich alle VOCs (Variants of Concern) dadurch aus, dass plötzlich eine größere Zahl an Mutationen auftaucht, als es die langsameren Änderungen anzeigen, die normalerweise beobachtet werden. VOCs mit besonders langen Abständen („long branches“) wurden wiederholt in Südafrika beobachtet, wie B.1.351 (Beta), C.1.2, B.1.1.528 und jetzt eben B.1.1.529 (Omikron). Südafrika und seine Nachbarn haben eine riesige HIV-Epidemie mit über 10 Millionen Betroffenen, davon 3 Millionen ohne antivirale Therapie. Das schreit nach Veränderung.

Einige dieser Escape-Veränderungen haben wir bei anderen Varianten bereits gesehen, und wir wissen auch aus Laboruntersuchungen, dass sie besorgniserregende Effekte haben könnten. Im Feldversuch im Bezirk Schwaz im Frühjahr 2021 mit den 100 000 Dosen von BioNTech war die Impfung allerdings sehr erfolgreich. Das außerhalb Südafrika größte Vorkommen dieser Virusvariante (Beta Variante) konnte also im Zusammenspiel von Impfung und Maßnahmen eliminiert werden. Äußerst interessant war dabei, dass in den ersten wenigen Wochen dieser Impfkampagne (Mitte März und Mitte April) eine vermehrtes Vorkommen der Alphavariante mit der zusätzlichen Mutation E484K beobachtet werden konnte. Nach der 2. Impfung ist auch diese, eigentlich besonders gefürchtete Variante eliminiert worden.

Die Mutation E484K erschwert es im Laborversuch dem Immunsystem am stärksten, das Virus zu erkennen (siehe folgende Grafik). Bei Omikron treten jetzt zusätzlich mehrere, geradezu relativ viele Mutationen rundherum auf. Wie sich solche Mutationen im Reagenzglas verhalten werden, können wir in etwa 2 Wochen sehen. Das Immunsystem ist aber viel komplexer, als man das im Reagenzglas nachbilden kann.

Deshalb kann derzeit auch noch nicht beantwortet werden, ob Omikron auch für Genesene oder Geimpfte gefährlich sein könnte, obwohl es gewisse Befürchtungen in diese Richtung gibt. Wir haben zwar bei einigen Varianten gesehen, dass sie unter Laborbedingungen vom Immunsystem schlechter erkannt werden, aber in der realen Welt sahen wir keine Beispiele, bei denen der Impfschutz stark vermindert war. Jesse Bloom, von dessen Labor die obige Grafik stammt, kann sich nicht vorstellen, dass es eine Variante gibt, die den Impfschutz komplett umgeht. Theodora Hatziioannou von der Rockefeller University aber schon.

Moderna und BionNTech haben auch schon Untersuchungen eingeleitet, um zu beurteilen, ob eine auf Omikron angepasste Auffrischungs-Impfung Sinn machen würde. Ein Ergebnis wird in zwei Wochen erwartet. Geduld ist im Augenblick die wichtigste Eigenschaft im Umgang mit Omikron. Wenn ein auf Omikron angepasster Auffrischungs-Impfstoff kommen sollte, wäre mit einer Zulassung ab 6 Wochen zu rechnen, die Herstellung größerer Mengen dauert 100 Tage und mehr.

Es lohnt sich also nach wie vor, den Booster mit dem aktuellen Impfstoff zu machen. Österreichisch: Jetzt erst recht!

Abschließend kann festgehalten werden, dass Omikron wahrscheinlich Übertragungsvorteile gegenüber Delta hat, ohne näher darauf einzugehen, ob das durch erleichterte Übertragbarkeit passiert oder durch Wirkverlust der Immunantwort von Geimpften oder Genesenen oder durch beides. Deshalb ist es nur logisch, dass die Verteilung von SARS-CoV-2 über Gauteng, dem Hubei Analogon von Afrika, natürlich schon passiert ist. Wäre dem nicht so, bestünde kein Übertragungsvorteil. Strenge Surveillance für alle Reisenden ist oberstes Gebot, während die Sperre von Flügen nach wenigen Tagen aufgehoben werden sollte (sie war ok für ganz kurze Zeit). Man sollte diese drastischen „bestrafenden“ Maßnahmen viel mehr durch Unterstützung derjenigen, die Daten transparent verbreiten, ersetzen.

P.S.: Eine Diskussion über den Schweregrad einer Erkrankung oder Sterblichkeit nach einer Infektion mit Omikron ist derzeit nutzlos, weil völlig frei von Evidenz. Seit kurzem sind in Südafrika wenige Tausend vorwiegend junge Menschen (nur etwa 6% der Bevölkerung ist über 65 Jahre alt) mit Omikron angesteckt worden, weshalb es Wochen bis Monate dauern wird, bis hier ausreichend Wissen gesammelt werden kann. Stéphane Helleringer, ein Bevölkerungswissenschaftler aus Abu Dhabi, bemerkte ganz entnervt, dass Südafrika eine hervorragende Statistik über die „Übersterblichkeit“ führt und deshalb von dort schnellere und qualifiziertere Daten zum Schweregrad von Infektionen mit Omikron kommen werden, als von „Eindrücken“ von Ärzten.« R. Z.


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Ihr Armin Thurnher

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