Der Eisberg

Die vielschichtige Krise, die wir derzeit erleben, produziert viele Verlierer – und vergiftet das gesellschaftliche Miteinander

Harry Bergmann
am 16.11.2021

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Foto: Annie Spratt

Liebe Leserinnen und Leser, ich will Ihnen seit Tagen schreiben, aber irgendetwas hindert mich daran. Also „irgendetwas“ ist eigentlich zu vage. Ich weiß ja, was es ist. Es ist meine Fassungslosigkeit.

Bevor mich diese Fassungslosigkeit erfasste, hatte ich schon eine recht gute Idee für diese Kolumne. Ich wollte etwas über einen Eisberg schreiben. Irgendeinen Eisberg. Dann hätte ich mich textlich elegant zur Klimakonferenz in Glasgow mäandert und festgestellt, dass das schwache Ergebnis der COP26 nicht geeignet ist, auch nur irgendeinen Eisberg zu retten. Dann wäre ich scharf abgebogen und auf einen ganz speziellen Eisberg zugesteuert. Den von der Titanic. Wäre ich erst bei der Titanic gewesen, hätte ich einen schaurig-schönen Vergleich zum Untergang des politischen Handwerks in Österreich gehabt.

Aber dann kam mir eben die Fassungslosigkeit über 13.000 Neuinfektionen am Tag in die Quere.

Die Fassungslosigkeit, dass wir in Österreich Politiker haben, von denen ich nicht weiß, was sie dort haben, wo andere Menschen eine Lernkurve haben. Leute, die um wiedergewählt zu werden, Dinge tun oder nicht tun, für die sie in Wahrheit noch am gleichen Tag aus ihren Ämtern geworfen werden sollten.

Die Fassungslosigkeit über einen Landeshauptmann, der gerade erst wieder Landeshauptmann geworden ist, und der ohne mit der Wimper zu zucken an einem Tag das haargenaue Gegenteil von dem sagt, was er tags zuvor gesagt hat.

Die Fassungslosigkeit über denselben Landeshauptmann, der die Frechheit – ja, Frechheit – besitzt vor laufender Kamera Aussagen über die Verfügbarkeit von Spitalsbetten zu machen, als würde er von der Belegung einer Frühstückspension reden.

Die Fassungslosigkeit über einen anderen Landeshauptmann, der Virologen zu hinterfotzigen Scharlatanen degradiert, die nichts besseres im Sinn hätten, als Unschuldige in ihren eigenen vier Wänden einzusperren.

Die Fassungslosigkeit über denselben Landeshauptmann, der – statt sich zu entschuldigen – erklärt, dass er zur Kenntnis nehme, dass man in der derzeit aufgeheizten Situation keine pointierten Aussagen mehr machen könne.

Die Fassungslosigkeit über einen Gesundheitsminister, der nicht nur keinen geraden Satz herausbringt, sondern sich von diesen beiden Landeshauptleuten wie ein Tanzbär am Nasenring durch die Manege führen lässt und das auch wirklich verdient hat.

Die Fassungslosigkeit über eine Tourismusministerin, die mehr als genug vor ihrer eigenen Tür zu kehren hätte, aber über diesen Gesundheitsminister, der ja immerhin in der gleichen Regierung sitzt, sagt, sie halte „überhaupt nichts von den Wortmeldungen des Gesundheitsministers.“ Hört, hört.

Die Fassungslosigkeit über den Schatten eines Bundeskanzlers eines Schatten-Bundeskanzlers, dem alles über den Kopf wächst und das nicht einmal zu verbergen imstande ist.

Die Fassungslosigkeit über eben diesen Bundeskanzler und jenen Gesundheitsminister, die zeitgleich über ein und dieselbe Sache völlig konträre Aussagen machen. Wenn man das überhaupt als Aussagen werten kann.

Die Fassungslosigkeit über das Interview eines bewundernswerten, hemdsärmeligen Komplexitätsforschers, in dem er sagt, dass das volle Ausmaß des derzeitigen Corona-Chaos seit Wochen als wissenschaftlich begründete Prognose auf den Tischen der Politiker gelegen ist.

Die Fassungslosigkeit über einen anderen Satz dieses Wissenschaftlers, dass er – wenn er seine Ergebnisse präsentierte – von der Politik immer wieder gefragt wurde, in welchen parteipolitischen Diensten er stünde.

Die Fassungslosigkeit, dass ein privates Gutachten über die Unschuld des wieder wahlkämpfenden, jüngsten Altbundeskanzlers in den Radio Nachrichten (ich muss gestehen, ich weiß den Sender nicht mehr) verlesen wird, als würde es sich um eine unerschütterliche Tatsache handeln.

Die Fassungslosigkeit, dass es dieses Gutachten überhaupt gibt.

Die Fassungslosigkeit über eine Partei, die noch immer glaubt, dass der Messias nicht nur zweimal gekommen ist, sondern auch ein drittes Mal kommen könnte.

Die Fassungslosigkeit, dass die größte Oppositionspartei das alles nicht für sich nutzen kann, nur herumquengelt und nicht einmal imstande ist, klar zu sagen: „Wenn wir an der Macht wären, würden wir genau das und das und das machen.“ Müssten es eh nicht machen, weil sie eben nicht an der Macht sind und wenn sie so weitertun, auch lange nicht sein werden.

Die Fassungslosigkeit hat sich gelegt. Sie ist einer Ratlosigkeit gewichen. Einer Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll. Einer Ratlosigkeit über die Ratlosigkeit der Politiker, die wir gewählt haben, weil sie ja wissen sollten, wie es weitergeht. Den Satz „Wir haben keine Erfahrung, es passiert zum ersten Mal.“ können sich die Herrschaften mittlerweile weiß-ich-wohin stecken. Es passiert nämlich zum vierten Mal.

Es ist gar nicht so sehr die Besorgnis über die Bekämpfung des Virus, die wird irgendwann so oder so vorbei sein. Treffender als die stets mahnende Virologin aus Innsbruck kann man es nicht sagen: „In 6 Monaten wird es 3 G‘s geben: geimpft, genesen oder gestorben.“

Nein, es ist die Besorgnis über den Zustand unserer Gesellschaft. Über die Aggression in unserer Gesellschaft. Über die Wut auf die „Anderen“. Über die Unfähigkeit zuzuhören. Über den Rückzug in den puren Egoismus.

Bald werden wir nur mehr Verlierer haben, und wir wissen aus der Geschichte, wohin das führt.

Ach, ich hätte bei meiner ursprünglichen Idee mit dem Eisberg bleiben sollen.

Denkt

Ihr Harry Bergmann

Soeben lese ich, dass die Impfkampagne überraschend auf Touren kommt. Kickl ist positiv getestet.


Dr. Harry Bergmann, Werbedilettant (gar nicht einmal so schlecht), Kolumnisten-Dilettant (na, ja…). Hat durch das Schreiben einige Freunde verloren, aber mehr gewonnen (glaubt er zumindest). Denkt seit einiger Zeit darüber nach, ob der Flug Wien – Tel Aviv ein Hinflug oder ein Rückflug ist.

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