Ausgabe November 2021

Gegen das Massensterben: Warum die Natur Rechte braucht

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Ganz offensichtlich sollte das historische Pariser Klimaabkommen von 2015 Pate stehen, als Mitte Oktober zum Abschluss des Weltnaturgipfels die „Kunming-Erklärung“ verabschiedet wurde. Unter dem Titel „Ökologische Zivilisation: Aufbau einer gemeinsamen Zukunft für alles Leben auf der Erde“ bekennen sich darin Minister*innen von fast 200 Teilnehmerstaaten dazu, „die Entwicklung, Verabschiedung und Umsetzung eines wirksamen globalen Rahmens für die biologische Vielfalt für die Zeit nach 2020 sicherzustellen“. Fatalerweise werden in der Kunming-Erklärung – anders als im ursprünglichen Entwurf – jedoch keine konkreten Ziele festgelegt. Damit bleibt auch diese „Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über biologische Vielfalt (CBD-COP15)“ erheblich hinter den Erwartungen der Umweltverbände wie auch hinter den tatsächlichen Erfordernissen zum Schutz des Weltnaturerbes zurück.

Dabei warnen Wissenschaftler*innen schon seit vielen Jahrzehnten vor unserem gefährlichen Umgang mit der Biosphäre. 1992 veröffentlichte der Physik-Nobelpreisträger und Mitbegründer der Union of Concerned Scientists, Henry Kendall, eine Warnung an die Menschheit, der sich 1700 Wissenschaftler*innen anschlossen: Die Menschheit befinde sich auf Kollisionskurs mit der Natur. Von den vielen Zerstörungen natürlicher Ressourcen sei der irreversible Verlust der Arten besonders ernstzunehmen, schrieben damals Kendall und seine Kolleg*innen.

2017 veröffentlichen Kendalls Nachfolger den Appell „Warning to humanity, a second notice“, dieses Mal mit mehr als 15 000 Unterzeichner*innen. Seit 1992 sei mit Ausnahme des Lochs in der Ozonschicht kein Problem gelöst worden, im Gegenteil: „Humanity has failed“, „die Menschheit hat versagt“, schreibt das Autor*innenteam um den Ökologen William J. Ripple. Sie habe nicht genug unternommen, um den möglicherweise katastrophalen Klimawandel zu bremsen. Und darüber hinaus hat sie ein Massenaussterben entfesselt – das sechste in grob 540 Mrd. Jahren – bis zum Ende dieses Jahrhunderts könnte es viele der gegenwärtigen Lebensformen auslöschen. Im Mai 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES seinen ersten globalen Report, der warnt, dass in den nächsten Jahren eine Million Arten aussterben könnten. Seitdem macht der Verlust der biologischen Vielfalt gelegentlich Schlagzeilen, doch dass diese Entwicklung auch für das Überleben der Menschheit auf der Erde eine existenzielle Bedrohung ist, scheint in weiten Teilen der Öffentlichkeit noch nicht angekommen zu sein.

Die politischen Akteure wiederum haben sich auf allen Ebenen zum Erhalt der biologischen Vielfalt verpflichtet: Im Übereinkommen zur biologischen Vielfalt der Vereinten Nationen, der Convention on Biological Diversity, kurz CBD, verpflichten sich die Mitgliedstaaten, die Vielfalt auf den Ebenen der Gene, Arten und Ökosysteme zu schützen. Der Eigenwert der biologischen Vielfalt ist darin völkerrechtlich verbindlich anerkannt. Auch die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDG), verlangen ausdrücklich, den Verlust der Biodiversität zu stoppen und eine nachhaltige Nutzung der terrestrischen Ökosysteme zu fördern. Ferner verlangt die Europäische Union den Schutz der biologischen Vielfalt, zuletzt in der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 der Europäischen Kommission. Artikel 20 des Grundgesetzes schützt die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen. Artikel 1 des Bundesnaturschutzgesetzes schreibt vor, dass „Natur und Landschaft auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen [...] zu schützen“ seien. Artikel 191 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, auch bekannt als Lissabon-Vertrag, verlangt, die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen einzubeziehen. Doch in der Umsetzung dieser Ziele gibt es offensichtliche Mängel. Studien zeigen, dass weder Naturschutzgebiete noch Meeresschutzgebiete, noch Nationalparks die Biodiversität auf ihren Gebieten zu schützen vermögen. Bis auf wenige Einzelerfolge etwa beim Kranich oder Seeadler geht das Sterben der Arten in den allermeisten Ländern der Welt und so auch in Deutschland unvermindert weiter.

Ein Recht für die Natur?

Könnte ein neues Recht helfen, wenn bislang alle politischen Maßnahmen versagen? Bereits 1972 hat der US-amerikanische Jurist Christopher Stone die Idee eines Klagerechtes für Tiere und natürliche Entitäten wie Flüsse oder Berge entwickelt. Stone erinnert daran, dass sich die Vorstellungen der Menschen über Moral und Recht im Laufe der Geschichte immer wieder verändert haben, etwa die Vorstellungen über Besitz. Es gab Zeiten, in der Menschen andere Menschen besaßen oder in denen Männer „ihre“ Frauen besaßen. Die Rechtslage hat sich inzwischen geändert, Leibeigenschaft und Sklaverei wurden verboten, und auch das Moral- und Rechtsempfinden der meisten Menschen in diesen Fragen hat sich geändert. Stone beschreibt die Geschichte des moralischen Empfindens der Menschheit als die einer ständigen Erweiterung: Erst zählte nur der eigene Clan, dann auch die anderen Menschen des gleichen Standes, schließlich alle Mitglieder einer Gesellschaft oder auch anderer Gesellschaften und schließlich sogar die Tiere. Die Vorstellung darüber, wer Rechte besitze, habe sich somit kontinuierlich erweitert. Jahrhundertelang hatten Kinder keine Rechte, ebenso wenig Gefangene, Fremde, Frauen, psychisch Kranke, Afroamerikaner*innen und Indigene. „Tatsache ist: Jedes Mal, wenn es eine Bewegung gab, einer Gruppe Rechte zu verleihen, die vorher noch keine hatte, wurde dieser Vorschlag als seltsam oder furchterregend oder lächerlich abgewertet.“[1]

So war es aus dieser Sicht nur konsequent, dass im Jahr 1988 acht große Umweltverbände zusammen mit der Hamburger Kanzlei Michael Günther versuchten, den Vorschlag von Stone im deutschen Rechtsraum anzuwenden. Sie ließen die Robben der Nordsee wegen der andauernden Vergiftung ihres Lebensraums gegen den damaligen Verkehrsminister der Bundesrepublik Deutschland, Jürgen Warnke (CSU), klagen. Eine Behörde aus dem Verantwortungsbereich des Verkehrsministeriums, das Deutsche Hydrographische Institut in Hamburg, hatte deutschen Unternehmen jahrelang gestattet, jährlich mehr als 300 000 Tonnen giftiger Abfälle in die Nordsee zu pumpen. Die Chemikalien stammten unter anderem von Bayer, von der Westdeutschen Abfallbeseitigungsgesellschaft aus Duisburg, den Deutschen Solvay-Werken aus Rheinfeld und vom Chemiewerk Kronos Titan aus Nordenham, das auch die Gifttransporte in die Nordsee organisierte. Schon im April 1988 waren tote Robbenbabys an die Strände gespült worden, später verendeten auch ältere Tiere, in einem Monat allein in Schleswig-Holstein 500 pro Woche. Die Seehunde starben an einer Viruserkrankung, doch die hohen Konzentrationen der zahlreichen Umweltgifte hatten sie so geschwächt, dass sie den Viren nichts entgegensetzen konnten. Das Hamburger Verwaltungsgericht forderte Stellungnahmen von den Unternehmen ein, wies die Klage allerdings ab, weil Robben im juristischen Sinne Sachen seien und damit nicht klagefähig.

Doch seitdem hat sich viel geändert: 1990 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung des Tieres im Bürgerlichen Gesetzbuch verabschiedet, mit dem geklärt wurde, dass Tiere juristisch nicht länger wie Sachen zu behandeln sind. Seit 2002 ist der Schutz der Tiere als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Und in den letzten Jahren wurden die Klagerechte von Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden Schritt für Schritt ausgeweitet, während Tierrechtler*innen die Frage aufgeworfen haben, warum Tieren individuelle Rechte verwehrt bleiben, wenn sie ebenso wie wir Menschen fühlende und schmerzempfindende Individuen sind.

Im Jahr 2018, also genau dreißig Jahre nach dem „Seehunde-sind-Sachen-Urteil“, hat der Bremer Jura-Professor Andreas Fischer-Lescano Stones Überlegungen zu den Klagerechten der Natur aufgenommen und zum Konzept der „Natur als Rechtsperson“ weiterentwickelt. „Allzu offensichtlich ist, dass die Zerstörung des Öko-Systems, das weltweite Artensterben sowie die Klimaerwärmung rasant fortschreiten“, schreibt er. „Dabei zeigen die politischen Versuche gegenzusteuern nur geringe Wirkung, auch weil der politische Wille fehlt, nationale Wirtschaftsinteressen mit first priority versehen werden und maßgebliche Akteure wie transnationale Unternehmen nicht hinreichend in die Umweltregulierung eingebunden sind.“ Tiere und Natur seien nur unzureichend geschützt, „wenn man sie dem good will von Staaten und Wirtschaftsakteuren überlässt und sie institutionell nicht so absichert, dass bestehende Rechtsschutzlücken geschlossen werden“.

Schon heute können offiziell anerkannte Umwelt- und Naturschutzverbände vor Gericht die Interessen der Natur vertreten. Das hat das sogenannte Verbandsklagerecht ermöglicht, das in den vergangenen Jahren in einigen Bundesländern auch auf Tierschutzverbände ausgeweitet wurde. Doch diese Möglichkeiten seien nichts mehr als „zaghafte Öffnungen“, schreibt Fischer-Lescano, denn es gebe „eklatante Durchsetzungslücken“. Denn die Verbandsklagen beschränkten sich auf die Durchsetzung einfachen Rechts, Grund- und Menschenrechte von Tieren und Natur könnten über diesen Mechanismus hingegen nicht geltend gemacht werden. Genau das aber bräuchten die Arten, um ihr Recht auf Überleben einklagen zu können. Fischer-Lescano schlägt deshalb „die Zuerkennung von autonomen Rechten für Natur und Tiere und damit die rechtliche Anerkennung nicht-humaner Rechtspersonen“ vor.[2]

Eine neue Symmetrie von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren

All dies zeigt, wie dringlich eine wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Debatte über diese Fragen ist. Es ist an der Zeit, die Rechte der Natur neu in die Diskussion zu bringen. Denn mit der möglichen Ausweitung des Status als juristische Person auf natürliche Entitäten sind vielfältige Fragen verbunden: nicht nur rechtstechnische, auch politische, soziale, philosophisch-ethische, aber auch grundsätzlich ontologische.

Moderne Gesellschaften sind bekanntlich stark von Organisationen und ihren Handlungsmöglichkeiten geprägt. Organisationen sind dabei nicht einfach die Summe handelnder Menschen, sondern kollektive Akteure, die über vielfältige Ressourcen und große Einfluss- und Machtchancen verfügen, unter anderem da sie rechtlich konstituierte Akteure sind. Die mit der Moderne sich durchsetzende Vorstellung von korporativen Akteuren als juristischen handelnden Personen, die von natürlichen Personen zu unterscheiden sind, ermöglichte einen radikalen Strukturwandel der Gesellschaft. Der amerikanische Soziologe James Coleman hat von der modernen Gesellschaft als einer asymmetrischen Gesellschaft gesprochen, da Organisationen in ihr eine ungleich einflussreichere und mächtigere Position innehaben als Individuen. Juristische Personen können als Einheiten handeln, Ressourcen besitzen, ihnen kommen Rechte und Pflichten zu. Dabei handeln korporative Akteure über ihre Stellvertreter*innen.

Tieren oder Ökosystemen nun den Status einer juristischen Person einzuräumen, hätte zum Ziel, ihnen rechtliche Mittel zur Verfügung zu stellen, die sie zum einen aus der Asymmetrie gegenüber menschlichen natürlichen Personen und zum anderen gegenüber juristischen Personen wenigstens etwas befreien würden. Die so hergestellte juristische Symmetrie soll es Tieren und Ökosystemen ermöglichen, unter dem Gesichtspunkt der Fairness eigene Interessen hör- und durchsetzbar zu machen. Freilich käme das einem Bruch mit den anthropozentrischen Grundlagen westlicher Gesellschaftsordnungen gleich, ja sogar einer radikalen Transformation derselben: Denn man würde sich auf eine Symmetrie von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zubewegen.

Eine solche Symmetrie mahnt beispielsweise Bruno Latour schon lange an. In seinem Buch „Kampf um Gaia“ führt er aus, dass es zur Verteidigung Gaias, des Erdsystems, der Bündnisse mit Teilaspekten der Erde bedürfe: mit den Regenwäldern, den Ozeanen, der Artenvielfalt in den Biodiversitäts-Hotspots, mit den Böden usw. Bevölkerungen, die von diesen Komponenten des Erdsystems abhängen, sollten sich mit ihnen verbünden und ihre Subsistenzgrundlagen gegen die disruptiven und ortlosen Kräfte des globalen Kapitalismus verteidigen. Da die Nichtmenschen nicht auf die gleiche Weise für sich sprechen können wie Menschen, müssten die nichtmenschlichen Lebewesen und Ökosysteme politisch repräsentiert werden. Kurzum: Die Wälder, die Luft und die Meere bräuchten Sprecher*innen. Die „Umwelt“ gäbe es auf diese Weise nicht länger, sie wäre vielmehr in ein neues Kollektiv eingegliedert. Ein „Parlament der Dinge“ würde die Zweiteilung von Natur und Gesellschaft aufheben und eine Neuordnung des Kollektivs vornehmen, das dann aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen zusammengesetzt wäre.

In eine ähnliche Richtung argumentierte auch schon früh der französische Philosoph Michel Serres. Für ihn herrscht ein Krieg gegen die Natur. Es müsse daher ein neuer „Naturvertrag“ mit der Natur geschlossen werden, mit dem Ziel, einen Zustand der Wechselseitigkeit und Symbiose zu schaffen.

Von der Natur als »Dienstleister« zum Eigenwert des Lebens

Doch die Standardbegründung für den Erhalt der Biodiversität bzw. von Ökosystemen setzt ganz anders an. Sie kann sich auf das in den letzten Jahrzehnten prominent gewordene Konzept von „Ökosystemdienstleistungen“ berufen. Ökosysteme haben dieser Auffassung zufolge einen direkten oder indirekten instrumentellen Wert für den Menschen. Beispielsweise kühlen Wälder das Klima, speichern und reinigen Süßwasser, liefern Bau- und Brennholz, stellen genetische Vielfalt bereit oder dienen den Menschen als Erholungsgebiete. Das „Kapital der Natur“ wird für die Leistungen geschätzt und bewertet, die es den Menschen erbringt; es ist also ein utilitaristisches und anthropozentrisches Konzept. Ökosysteme haben diesem Denken zufolge keinen intrinsischen, sondern einen instrumentellen Wert für das menschliche Wohlbefinden.

Folgt man diesem instrumentellen Ansatz nicht, sondern geht vom Eigenwert des Lebens auf der Erde aus, stellen sich weitergehende Fragen. Im Raum steht dann die Frage nach der Bewohnbarkeit des Planeten Erde für alle Lebensformen. Folgt man dieser Sichtweise, soll die biologische Vielfalt nicht allein aufgrund menschlicher Interessen geschützt werden, Ökosysteme und Arten sollen vielmehr einen eigenen ethischen oder rechtlichen Wert erhalten. Diese Auffassung, die von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren geteilt wird, beruht auf einer nicht-anthropozentrischen Naturethik. Dabei wird zumeist auch die ontologische Trennung von Kultur versus Natur kritisiert. Nicht-menschlichen Wesen wird Subjektivität, Handlungsfähigkeit und ein intrinsischer moralischer Wert zugesprochen. Auch in der akademischen Ethik gibt es seit Jahren eine ausführliche Diskussion über die Frage, ob Menschen nur anderen Menschen oder auch der Natur, also Pflanzen, Tieren, Flüssen, oder Bergen Respekt schulden. Und es wird die Frage erörtert, ob natürliche Entitäten eine eigene Würde und einen moralischen Wert besitzen.

Radikal holistische naturethische Positionen wie die Tiefenökologie von Arne Naess, die Landethik von Aldo Leopold oder der Ökofeminismus Val Plumwoods haben schon vor Jahrzehnten den Eigenwert von tierlichen Populationen und Ökosystemen behauptet. Diese Positionen beruhen auf einem moralischen Holismus, der betont, dass der Mensch kein eigenständiges Wesen ist und nicht nur von anderen Menschen, sondern auch von physikalischen, biochemischen und biologischen Systemen abhängt, zwischen denen enge Interdependenzen bestehen. Deutlich zeigt sich diese holistische Position in lateinamerikanischen Diskursen zu den Rechten der Natur und in indigenen Kosmologien, die die Trennung von Natur und Kultur bzw. Gesellschaft unterlaufen. Neue Hybride aus westlichem Recht und indigenem Denken sind in Lateinamerika in den letzten Jahren in Gesetze überführt worden. Artikel 71 der ecuadorianischen Verfassung von 2008 etwa spricht der Natur das Recht zu, zu existieren, ihre Lebenszyklen, ihre Struktur, ihre Funktionen und evolutionären Prozesse zu erhalten und zu pflegen. Während im westlichen Modell die Natur bislang keine eigenen Rechte beanspruchen kann, wurden in Ecuador in den letzten Jahren die kulturellen Topoi der pachamama (Mutter Erde) oder des buen vivir, des guten Lebens, im Dialog mit internationalen NGOs als Grundlage für die Verfassungsdebatten genutzt. Buen vivir greift auf indigene Wissensbestände aus den Anden zurück, die kommunitär und nicht-kapitalistisch orientiert sind, und skizziert ein sozialökologisches Konzept von Entwicklung und gutem Leben.

Dem gegenüber steht der moralische Individualismus, der sich nicht zwangsläufig auf anthropozentrische Weise nur für die Belange von Menschen interessiert. Moralische Individualisten sprechen durchaus auch empfindungs- und handlungsfähigen Tieren einen moralischen Eigenwert zu. Nicht empfindungsfähigen tierlichen Individuen und Kollektiven wie tierlichen Gruppen oder Arten wird er allerdings nicht zuerkannt. Der individuelle Schimpanse und das einzelne Schwein erhalten so einen besonderen moralischen und rechtlichen Status – nicht aber die einzelne Schnecke oder das Kollektiv der Schweine als Spezies. Zentral ist in diesen Debatten der Gedanke, dass ein einzelnes empfindungsfähiges Individuum mit Eigenwert nicht zugunsten eines Kollektivs von Individuen (zum Beispiel einer Art) geopfert werden darf. Der Eigenwert des Individuums trumpft das Interesse am Überleben bestimmter Arten. In der Philosophie dominiert in den letzten Jahrzehnten insgesamt der moralische Individualismus. Empfindungs- und handlungsfähigen Tieren kommt ein moralischer Wert zu, der Rest der Natur sei jedoch „ohne moralischen oder absoluten Wert“, argumentiert die Philosophin Angelika Krebs. Anthropozentrische Argumente brauche man, so Krebs weiter, „um Naturschutz begründen zu können“.[3]

Die Natur als Quasi-Subjekt und Partnerin

Die juristische Debatte hat im Vergleich zum philosophischen Diskurs einen geringeren Begründungsbedarf mit Blick auf die Unterscheidung anthropozentrisch versus biozentrisch. So wie eine Aktiengesellschaft eine juristische Person ist und dies nicht zur Voraussetzung hat, dass sie auch in einem strikten realistischen Sinne über Personalität verfügt, so bedarf es auch für Tiere, Bäume oder Ökosysteme nicht des Nachweises, über Personalität, Subjektivität oder Intentionalität zu verfügen. Der schon erwähnte Christopher Stone stellt heraus, dass, sobald „Entitäten“ mit Rechten ausgestattet sind, sie personifiziert und auf diese Weise allmählich an sich wertgeschätzt werden – und zwar nicht nur wegen des Nutzens, den sie den Menschen bringen. Das Recht kreiert eine legale Personifizierung, die schließlich auch alltagsweltlich eine Personalisierung zur Folge hat.

Tiere waren schon immer Regelungsgegenstand des Rechts, sei es als Nahrung, Produktionsfaktor, Einkommensquelle, Krankheitsüberträger oder Schädling. Doch zunehmend werden Tiere unter dem Aspekt des Schutzes betrachtet. Die rechtliche Gleichsetzung von Tier und Sache ist aufgehoben, und der Tierschutz findet sich mittlerweile als Staatsziel im Grundgesetz (Art 20a). Doch ist dies nur ein objektiv-rechtlicher Schutz, die Natur kann aus dem Artikel 20a keine subjektiven Rechte ableiten. Dennoch scheint es auch in der deutschen Rechtsordnung prinzipiell möglich zu sein, Entitäten der Natur (etwa regionale Ökosysteme) als juristische Personen anzuerkennen. Jens Kersten, Professor für Öffentliches Recht, ist der Auffassung, dass die Natur als Rechtssubjekt auch verfassungsrechtlich verankert werden sollte.[4] Er schlägt daher eine Grundgesetzänderung vor, die die Rechte der Natur anerkennt, etwa mit folgendem Wortlaut: „Die Rechte der Natur sind zu achten und zu schützen.“ Dies impliziert nicht, dass Rechte der Natur gegen Prinzipien der Menschwürde in Anschlag gebracht werden könnten. Die Menschenwürdegarantie gilt absolut und ist den Menschen vorbehalten.

Mit der Anerkennung der Natur als juristische Person ginge also eine Personalitätsfiktion einher. Diese korrespondiert zum einen leicht mit animistischen Naturvorstellungen, zum anderen aber auch mit alltagsweltlichen Naturvorstellungen in den westlichen Ländern. Die französischen Sozialwissenschaftler Alain Caillé, Philippe Chanial und Fabrice Flipo stellen als Forderung zum Schutz der Biodiversität heraus, dass Menschen und Natur in einem partnerschaftlichen und damit symmetrischen Verhältnis zueinander stehen sollten. Eine partnerschaftliche Beziehung zur Natur hätte zur Voraussetzung, dass Menschen der Natur (wieder) Subjektivität zusprechen.[5]

Diese Sicht wird mittlerweile von weiten Teilen der Biologie unterstützt. Es wird zunehmend klar, dass sich die traditionelle Biologie zu sehr auf einen technizistischen und reduktionistischen Pfad begeben hat, der die Lebendigkeit, Sinnhaftigkeit und Subjektivität von Natur übersehen und negiert hat. Der Verhaltensbiologe Norbert Sachser spricht von einer Revolution des Tierbildes in den vergangenen Jahren: Emotionen, Kommunikation, Lernen, Intelligenz und Individualität der Tiere werden heute ganz anders eingeschätzt als noch vor wenigen Jahrzehnten. Mittlerweile ist die Literatur zur Revision unseres wissenschaftlichen Naturbildes kaum noch zu überblicken. Der Biologe und Philosoph Andreas Weber beispielsweise verfolgt eine alternative Ökologie und arbeitet heraus, dass Materie selbst schöpferisch ist, „dass sie einem Prinzip der Fülle folgt und Subjektivität aus sich hervorbringt“. Dabei stützt sich Weber unter anderem auch auf Lynn Margulis und das Symbiosekonzept, welches schon früh individualistische Annahmen in der Biologie kritisiert hat.[6]

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Was passiert mit dem moralischen Individualismus, wenn es Individuen in einem starken Sinne gar nicht geben sollte? Die Naturwissenschaftler Scott Gilbert, Jan Sapp und Alfred Tauber argumentieren daher mit Blick auf das Konzept der Symbiose: „Tiere sind Kompositionen vieler Arten, die zusammen leben, sich entwickeln und entfalten.“ Sie gehen so weit, mit dem Konzept der Symbiose ältere Vorstellungen von biologischer Individualität in Frage zu stellen. Damit gerät auch das evolutionäre Konzept der individuellen Selektion in die Krise. Denn wenn es anatomisch, embryologisch, physiologisch, immunologisch, genetisch und evolutionär wenig Rückhalt für ein darwinistisches Konzept von Individualität gibt, kann man auch nicht mehr von der Selektion von Entitäten ausgehen, die voneinander unabhängig existieren. Sie kommen daher zu dem Schluss: „Sowohl bei Tieren als auch bei Pflanzen hat es nie Individuen gegeben. Dieses neue Paradigma der Biologie [...] sucht nach neuen Beziehungen zwischen den verschiedenen Lebewesen auf der Erde. Wir sind alle Flechten.“[7] Auch der von den Biologen Francisco Varela und Humberto Maturana vor Jahrzehnten eingeführte Begriff der Autopoiesis verweist schon auf ähnliche Prozesse der autonomen Selbstorganisation. Lebewesen sind keine Maschinen, sondern stellen sich selbst her, entwickeln eine Form von Autonomie und bauen ihre Identität selbst auf.

Man kann also auf naturwissenschaftliches Wissen gestützt versuchen, einen aufgeklärten Animismus wiederzubeleben oder neu zu kreieren. Dieser könnte das juristische Projekt der Kreation von Natur als juristischer Person begleiten. Caillé, Chanial und Flipo bezeichnen diesen Ansatz als einen methodologischen Animismus. Denn wir müssen nicht zunächst allen Lebewesen wissenschaftlich nachgewiesen und abgesichert Bewusstsein, Subjektivität, Intentionalität und einen Kooperationswillen zusprechen. Es reicht, die nichtmenschlichen Wesen methodologisch als Quasi-Subjekte anzusehen. Das heißt, wir behandeln die anderen Lebewesen so, als ob sie über Subjektivität verfügten – unabhängig davon, ob man diese wirklich wissenschaftlich „beweisen“ kann. Dies führt dazu, nichtmenschliche Wesen als Quasi-Subjekte anzuerkennen, sich partnerschaftlich mit ihnen verbinden zu können. Es werden Gabenbeziehungen – Beziehungen des Gebens und Nehmens – aufgebaut und eingegangen, das heißt, es werden Allianzen gebildet, und das Bündnis zwischen den menschlichen und nichtmenschlichen Wesen muss immer wieder aufs Neue hergestellt werden.[8]

Diese Bündnisse haben genauso wie Gabenbeziehungen unter Menschen eine agonistische Seite. Gaben vermögen Bündnisse herzustellen, doch enthalten sie immer auch Momente der Auseinandersetzung und des Widerstreites. Das Gabenverhältnis zur Natur ist niemals nur rein harmonisch, auch die Natur kann sich verweigern, unerbittlich nehmen oder Schlechtes geben. Natur aus einer Gabenbeziehung zu betrachten, impliziert mithin in keiner Weise ein rein konfliktfreies oder romantisch verklärtes Verständnis der Beziehung. Und natürlich geht es nicht darum zu tauschen, also etwas exakt Äquivalentes dessen zurückzugeben, was die Natur gegeben hat. Es geht vielmehr um die Anerkennung des Eigenwerts nichtmenschlicher Lebewesen und ökologischer Prozesse sowie um die Erneuerung des Bündnisses durch den Akt der Erwiderung. Im Akt der Erwiderung wird die Natur als Partnerin anerkannt und nicht länger nur als passive Ressourcenquelle.

Wir Menschen müssen unseren Platz in der Welt zurechtrücken

Wir plädieren also dafür, wissenschaftlich wie alltagsweltlich aus einer Gabenperspektive auf die Natur zu blicken. Ein lebensweltlich und naturwissenschaftlich verankerter methodologischer Animismus gegenüber der belebten Natur kann unseres Erachtens eine adäquate nicht-dualistische Ontologie darstellen, die auch als Ausgangspunkt für die Debatte über die Begründbarkeit von Rechten der Natur dienen kann. Wir erfahren die Natur eben nicht nur als Objekt und frei verfügbare Ressource, sondern auch als ein eigenständiges Gegenüber, so als wäre sie eine Person – auch diese Erfahrung ist real und wahr.[9]

Wir Menschen müssen also unseren Platz in der Welt zurechtrücken. Mitten im sechsten Massensterben der Erdgeschichte, während die Arten um uns herum mit nie erlebter Geschwindigkeit aussterben, ist das dringlicher denn je – nicht nur zum Schutz der aussterbenden Spezies, sondern auch für unser eigenes Überleben, das ohne funktionierende Ökosysteme im Netz des Lebens, dessen Teil wir sind, nicht möglich sein wird.[10] Doch dieses neue Selbst- und Rechtsverständnis wird vor allem den Bewohner*innen der westlichen Industriegesellschaften nicht leichtfallen. Im westlichen Denken haben sich Anthropozentrismus und ein Verständnis von der Natur als Ressourcenlager über Jahrhunderte verfestigt.

Bislang haben jedoch alle Kulturen – außer der der Moderne – ihr Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur als Gabenbeziehung verstanden: Von den Meeren, Seen, Wäldern, Äckern, Nutz- und Wildtieren nimmt man und ihnen gibt man auch etwas zurück. Kann man ein solches Gabenverhältnis unter modernen Bedingungen wiederherstellen? Allzu schnell handelt man sich den Vorwurf ein, romantisch und antimodern zu sein. In eine vormoderne Vorstellungswelt wollen wir sicher nicht einkehren. Doch zeigt die neuere biologische Forschung von Symbiosen und Ko-Evolution genau dies: dass auf ökosystemarer Ebene alles miteinander zusammenhängt und sich gemeinsam entwickelt, wir Menschen inklusive. Damit ist die Trennung der Sphären von Natur und Kultur obsolet. Ohne eine gewisse „Wiederverzauberung der Welt“ wird ein gemeinsames Leben nicht zu gewinnen sein. Zugleich würde eine solche Wiederverzauberung letztendlich nur dem allgemeinen Prinzip der Wechselseitigkeit folgen, das da lautet: Alle, die zum Gedeihen einer Gesellschaft beitragen, sollten nicht leer ausgehen.[11] Die Arbeit der Pflanzen und Tiere ist Teil des gesellschaftlichen Kooperationszusammenhangs und sollte als solche anerkannt werden.

Das deutsche Rechtsverständnis ist von einer solchen Anerkennung noch weit entfernt, doch immerhin gibt es auch hier einen langsamen Paradigmenwechsel, der mit einer Ausweitung von Grundrechten für tierliche Individuen – wie Menschenaffen, aber auch für einzelne Rinder, Hühner oder Schweine – über Speziesgrenzen einhergeht.[12] Menschenrechtsartige Tiergrundrechte manifestieren sich allmählich in der Rechtspraxis. Darin liegt das Potential, ein gesellschaftliches Umdenken zu fördern, um so in einem weiteren Schritt dem Artensterben auch über Rechte der Natur etwa für Arten oder Ökosysteme zu begegnen.

Bis dahin dürfte es allerdings noch ein ziemlich weiter Weg sein. Vielleicht kommt man dem großen Ziel beim nächsten Präsenztreffen vom 25. April bis 8. Mai 2022 näher. Dann nämlich soll, und zwar wieder in Kunming, ein neues Abkommen verabschiedet werden – und dann endlich auch mit konkreten Zielen zum Schutz der so bedrohten biologischen Vielfalt.

Der Beitrag basiert auf der Einleitung des neuen, von den beiden Autor*innen im Campus Verlag herausgegebenen Buches: Welche Rechte braucht die Natur? Wege aus dem Artensterben, Frankfurt a. M. und New York 2021.

[1] Christopher D. Stone, Should trees have standing?, Oxford 2018.

[2] Andreas Fischer-Lescano, Natur als Rechtsperson. Konstellationen der Stellvertretung im Recht, in: „Zeitschrift für Umweltrecht“, 4/2018, S. 205-217.

[3] Angelika Krebs, (Hg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M. 1997, S. 364.

[4] Jens Kersten, Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, 11/2020, S. 27-32.

[5] Alain Caillé, Philippe Chanial und Fabrice Flipo, Que donne la nature? L’ecologie par le don, in: „Revue du MAUSS semestrielle“, 2/2013, S. 5-23.

[6] Norbert Sachser, Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind, Reinbek bei Hamburg 2018; Andreas Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin 2007.

[7] Scott F. Gilbert, Jan Sapp und Alfred I. Tauber, A Symbiotic View of Life: We Have Never Been Individuals, in: „The Quarterly Review of Biology“, 4/2012, S. 325-340 (Übers. durch die Verfasser).

[8] Vgl. Frank Adloff, Politik der Gabe. Für ein anderes Zusammenleben, Hamburg 2018.

[9] Vgl. Angelika Krebs et al., Das Weltbild der Igel. Naturethik einmal anders, Basel 2021.

[10] Vgl. Tanja Busse, Das Sterben der anderen. Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können, München 2019.

[11] Peter Niesen, Kooperation und Unterwerfung. Vorüberlegungen zur politischen Theorie des Mensch/Nutztier-Verhältnisses, in: „Mittelweg 36“, 5/2014, S. 45-58.

[12] Vgl. Anne Peters und Saskia Stucki, Globales Tierrecht, Forschungsbericht 2016 – Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, www.mpg.de, 2016.

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