Die Liebe in Zeiten des Schweigens: "Nelly &Nadine"
Martin Nguyen
| 07.12.2022
Bis jetzt hat sie es nicht geschafft. Sylvie Bianchi hält das ungelesene Tagebuch ihrer Großmutter Nelly Mousset-Vos in Händen. Die belgische Opernsängerin und Überlebende des Konzentrationslagers Ravensbrück hinterließ eine Truhe mit Briefen, Fotos und Super-8-Filmen, die über Jahrzehnte unberührt blieb.
Der schwedische Regisseur Magnus Gertten stellt ein außergewöhnliches Archivmaterial an den Anfang seines Dokumentarfilms "Nelly &Nadine": 1945 stranden tausende Überlebende des Naziregimes im Hafen von Malmö. Lachende, erleichterte Menschen blicken in die Kamera. Darunter eine asiatische Frau mit schwarzen Haaren; ein ernster Blick, der aus der Menge sticht: Nadine Hwang.
Wie konnte Gertten ihrem Gesicht eine Geschichte geben? Das für die schwedischen Nachrichten aufgenommene Material faszinierte ihn derart, dass er bereits zwei Filme, "Harbour of Hope"(2011) und "Every Face Has a Name" (2015), daraus montierte. Bei einer Vorführung des Letzteren sprach ihn Sylvie an: Ihre Großmutter Nelly und Nadine hatten jahrzehntelang zusammengelebt. Nur blieb ihre Liebesgeschichte, die ihren Anfang im KZ Ravensbrück genommen hatte, unter familiärem Schweigen begraben.
Mithilfe des Films beginnt Sylvies schmerzhafter Prozess, ein Stück Geschichte freizulegen. Gertten begleitet dies respektvoll, dosiert in der Montage geschickt die Preisgabe von Details und konzentriert sich auf Nellys Tagebuch und das Privatarchiv. Momente des Glücks inmitten des Horrors eines KZs und die Hoffnung auf mehr nähren den Willen der beiden durchzuhalten. Sie überleben und versuchen sich an einem Neuanfang in Venezuela, wovon die von Nadine gefilmten Super-8-Aufnahmen zeugen.
Allerdings trifft ihre Liebe erneut auf Widerstand, diesmal aus der eigenen Familie. Manche Details bleiben unbeantwortet, doch "Nelly & Nadine" ist ein zutiefst berührender Film, der dem Thema Holocaust bisher weithin unbekannt gebliebene Facetten wie lesbisches Leben und Lieben abgewinnt. "Nichts ist real", heißt es im Film, "bis man es ausspricht."
Ab Fr in den Kinos (OmU)