Wirklichkeit und Wahrheit: "Saint Omer"

FALTER:Woche, FALTER:Woche 10/2023 vom 08.03.2023

Eine Mutter lässt ihr Kind am Strand zurück. Die senegalesische Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) ist angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter getötet zu haben. Die Dokumentarfilmerin Alice Diop schickt in ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt die junge Schriftstellerin Rama (Kayije Kagame) aus Paris zu dem Gerichtsprozess in die titelgebende Stadt Saint Omer in Nordfrankreich. Auf einem realen Fall basierend, verdichtet sich in starren Einstellungen und langen Dialogen der Versuch einer Erklärung. Denn Coly begreift selbst nicht, wie sie ihr Kind der einsetzenden Flut überlassen konnte.

"Saint Omer" zeichnet nüchtern familiäre und kollektive Identitätsbilder einer ins französische Exil geschickten Tochter nach; eine moderne Medea, die den Erwartungen der Gesellschaft verhängnisvoll nicht gerecht werden konnte.

Im Lauf der Verhandlung erkennt die schwangere Rama mehr Gemeinsamkeiten mit der Angeklagten, blickt plötzlich in den inneren Spiegel, der die belastende Bindung zur eigenen Mutter freigibt und ihr Selbstverständnis erschüttert.

Der Film verwebt diese Erzählschichten klug mit Fragen rund um Status, Moral und kulturelle Differenzen. Für die Komplexität der unfassbaren Tat bietet er jedoch keine einfachen Antworten.

Ab Fr in den Kinos (OmU im Admiral)

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