Bürgerin bei einem Bürgerrat vor Flipchart
Daniel Furxer/ Zukunftsrat Demokratie
Daniel Furxer/ Zukunftsrat Demokratie
Bürgerräte

Wenn Politik Rat beim Volk sucht

Die Demokratie ist in der Krise. Viele Bürgerinnen und Bürger sind politikverdrossen und gehen nicht mehr zur Wahl. Gleichzeitig spalten Themen wie die Klimakrise oder die CoV-Pandemie die Gesellschaft. Mehr Bürgerbeteiligung könnte dem entgegenwirken – das wurde kürzlich passenderweise im Rahmen eines österreichweiten Bürgerrats diskutiert.

Rund drei Viertel der Wahlberechtigten gaben am Wochenende bei der oberösterreichischen Landtagswahl ihre Stimme ab. 2015 waren es rund 82 Prozent. Von den wahlberechtigten Grazerinnen und Grazern gingen hingegen nur rund 44 Prozent zur Wahl. Diese Zahlen machen deutlich: Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik schwindet, während gesellschaftliche Konfliktlinien gleichzeitig immer stärker zu Tage treten. Auf der Suche nach Lösungen für diese demokratiepolitische Krise trafen sich kürzlich Bürgerinnen und Bürger im Rahmen eines bundesweiten Bürgerrats, dem Zukunftsrat Demokratie. Anderthalb Tage lang wurde argumentiert, diskutiert und einander zugehört.

Ein Bürgerrat zum Thema Demokratie

Organisiert wurde der Bürgerrat zum Thema Demokratie vom Verein Respekt.net und den Initiativen IG Demokratie und mehr demokratie!. Bürgerräte seien ein erprobtes Partizipationsverfahren, sagt die Präsidentin von Respekt.net Bettina Reiter. Mit dem Zukunftsrat wollte man erstmals zeigen, dass Beteiligung auch auf nationaler Ebene funktioniere und man auch die Demokratie selbst zum Gegenstand der Beratungen machen könnte. „Wir haben eine reale politische Situation, was Demokratie-Standards angeht, die sehr viele Wünsche offenlässt“, meint Reiter.

Ö1-Sendungshinweis

Über Bürgerräte berichtet auch die Sendereihe Dimensionen, 27.9., 19:05

Einer dieser Wünsche lautet mehr Bürgerbeteiligung, darüber sind sich die zehn zufällig ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Zukunftsrats einig. Bürgerbeteiligungsprozesse, wie Bürgerräte, sollten institutionalisiert, politische Bildung ausgebaut und Partizipationskompetenzen gestärkt werden. Denn gerade bei den Themen Gesundheit, Pflege, Klima und Gerechtigkeit brauche es einen breiten gesellschaftlichen Nachdenkprozess, um gemeinsam tragfähige Lösungen zu erarbeiten. „Das Gefühl, was man als normaler Bürger hat: Sehr vieles passiert auf der politischen und auf der Expertenebene“, erzählt Werner aus Linz. „Und dann wird das, was schon fertig entschieden ist, einfach nur der Bevölkerung präsentiert.“

Politik sucht Rat

Bürgerräte seien ein Instrument der Meinungsbildung, erklärt die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs, die sich in ihrer Forschung mit innovativen Formen der Demokratie beschäftigt. Ziel sei nicht mittels Bürgerräten eine Volksgesetzgebung zu etablieren. Eine solche sei in Österreich auch nicht verfassungskonform. Vielmehr gehe es darum, Raum und Zeit für das gute Gespräch, für die gute Meinungsbildung zu finden. „Die ja auch moderiert ist und eben nicht aufgeheizt, populistisch, überspitzt stattfindet, so wie das häufig in Sozialen Medien der Fall ist.“

Bürgerinnen und Bürger diskutieren bei einem Bürgerrat
Daniel Furxer/ Zukunftsrat Demokratie
Die Bürgerinnen und Bürger beim Zukunftsrat Demokratie

Bürgerräte würden sich besonders für Zukunftsfragen eignen, erklärt die Forscherin. Für Themen also, die gesellschaftlich langfristig wirken und über die nicht unmittelbar entschieden werden kann. „Es ist natürlich wichtig, dass jeder Bürgerrat nur Fragen beantwortet oder Fragen bespricht und Empfehlungen ausspricht, für die diese Ebene tatsächlich zuständig ist.“ Einen Bürgerrat auf Gemeindeebene über EU-Themen diskutieren zu lassen sei zwar eine gute Übung, die Anbindung an die Politik fehle aber.

Und diese Anbindung ist wichtig, denn bei Bürgerräten lernen nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, wie Politik funktioniert, sondern die Politik holt sich auch ein politisches Mandat ab. „Und ist dann manchmal mutiger, als sie ohne diesen Bürgerrat gewesen wäre. Das sehen wir z.B. beim Klima-Bürgerrat in Frankreich, aber auch im Vereinigten Königreich.“

Demokratische Legitimation schwindet

Bürgerinnen und Bürger möchten sich gerne stärker beteiligen. Das zeigen auch die Ergebnisse des österreichischen Demokratie Monitors. Die Zufriedenheit mit dem politischen System hänge stark von den ökonomischen Ressourcen ab, berichtet Martina Zandonella vom Forschungsinstitut SORA. „Das obere Dritte, also das Drittel, das ein gutes Einkommen hat und finanziell gut abgesichert ist, ist zufrieden, wie das System funktioniert. Während die Menschen im unteren Drittel das Vertrauen in das System verloren haben.“

Flipcharts bei Bürgerrat
Juliane Nagiller, ORF
Diskussion wird visualisiert

Dieser Vertrauensverlust äußert sich unter anderem bei Wahlen. So haben bei der letzten Nationalratswahl 2019 83 Prozent der Personen aus dem oberen Einkommensdrittel gewählt, wohingegen nur 59 Prozent der Personen aus dem unteren Einkommensdrittel zur Wahl gegangen sind. Viele hätten das Gefühl, dass die Politik ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet und ihre Stimme nicht gehört wird, sagt die Sozialwissenschaftlerin. Ein Gefühl, das auf realen Erfahrungen fußt. So gaben Personen aus dem unteren Einkommensdrittel an, bereits in der Schule kaum Möglichkeiten zur Mitbestimmung gehabt zu haben. „Das beginnt schon sehr früh und setzt sich in allen Lebensbereichen fort, wo die Menschen im unteren Einkommen-Drittel einfach die Erfahrung machen, ich bin nicht Teil.“

Eine Erfahrung, die die Politik zunehmend vor ein Legitimationsproblem stellt. Viele Menschen, die in Österreich leben, dürfen nicht wählen, da sie nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Andere gehen nicht wählen. Die Folge: In Wien beispielsweise hätten nur 45 Prozent der Bevölkerung über 16 Jahre eine Vertretung im Landtag und Gemeinderat, sagt Zandonella.

Gegen Politikverdrossenheit hilft Beteiligung

Bürgerbeteiligungsprozesse, wie Bürgerräte, könnten dieser Politikverdrossenheit entgegenwirken, ist die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs überzeugt. Man könnte damit die repräsentative Demokratie wieder repräsentativer machen. „Indem man über das Losverfahren, das ja am Anfang dieser Bürgerräte steht, Menschen erreicht, die sich vielleicht schon vom Wahlprozess verabschiedet haben und politikfern sind, weil sie sich weniger gehört fühlen.“

Viel Erfahrung mit diesem Instrument hat Vorarlberg. Es gilt, was die institutionelle Verankerung von Bürgerbeteiligungsprozessen angeht, international als Vorbild. Bereits vor fünfzehn Jahren hat das Büro für Zukunftsfragen, eine Stabstelle, die direkt dem Landeshauptmann zugeordnet ist, erstmals einen Bürgerrat einberufen. Ein voller Erfolg, weshalb konsultative Bürgerbeteiligungsverfahren 2013 in der Landesverfassung verankert wurden. Seither kann nicht nur die Politik sich bei bestimmten Themen Rat einholen, auch die Bürgerinnen und Bürger können mittels mindestens 1.000 Unterschriften einen landesweiten Bürgerrat einfordern.

Auch auf EU-Ebene wird seit Kurzem auf Bürgerbeteiligung gesetzt. Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas finden vier Bürgerräte mit jeweils 200 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger statt. Ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist zwischen 16 und 25 Jahren alt. Diskutiert wird über Werte und Recht, die Stellung der EU in der Welt, Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit sowie den Klimawandel. Dieser wird bald auch im Zentrum des österreichischen Klimarats stehen. Er wird aus 100 Personen bestehen, die Österreich was Alter, Bildungsstand, Einkommen, Geschlecht und Wohnort betrifft, repräsentieren. Sie sollen ab Jahresende 2021 die Frage diskutieren: Was müssen wir heute tun, um morgen in einer klimafreundlichen Zukunft zu leben?