Der Mann, der den Wienerwald rettete
Benedikt Narodoslawsky in Falter 11/2022 vom 2022-03-18 (S. 52)
20. März 1872, Landesgericht Wien. Es sieht nicht gut aus für Joseph Schöffel. Vor zwei Monaten hat er in einem Artikel in der Deutschen Zeitung das Gericht angegriffen, das korrupte Beamte freigesprochen hatte. Die Ausgabe wurde sofort beschlagnahmt, nun steht er wegen "Herabwürdigung eines gerichtlichen Erkenntnisses durch Schmähung" vor dem Richter. Ihm drohen sechs Monate Haft.
Schöffel will erklären, wie Beamte und Spekulanten zulasten des Staates und der Bevölkerung den Wienerwald opfern wollen. Er will aufzeigen, wie das Gericht die Verbrecher laufen ließ, obwohl alle Beweise auf dem Tisch liegen. Aber der Richter will nichts davon hören, es scheint, als habe der Beschuldigte alle Beweise umsonst in den Gerichtssaal geschleppt. Dem Gericht geht es um seine Würde, Schöffel um die Wahrheit. Dieser Tag vor 150 Jahren markiert den Höhepunkt der ersten Naturschutz-Kampagne Österreichs.
Zu diesem Zeitpunkt dauert Schöffels publizistischer Kampf zur Rettung des Wienerwaldes bereits zwei Jahre an, sein Beginn lässt sich genau datieren. Am 25. April 1870 platzt auf Seite 2 des Neuen Wiener Tagblatts eine politische Bombe. Unter der Überschrift "Der Verkauf des Wiener Waldes" erscheint ein Artikel, der den Wienerwald preist, "den Stolz der Residenz, denn eine ähnliche Umgebung kann keine größere Stadt der Welt nachweisen!". Auf das Loblied folgen die Alarmglocken. "Dieses Kleinod der Wiener, dieses herrliche Geschenk der Natur soll nun stückweise an Spekulanten verkauft und verwüstet werden."
Geschrieben hat ihn Schöffel, ein pensionierter Oberleutnant. Auch wenn er in einem elitären Kreis verkehrt, ist der Mann mit dem buschigen Schnauzer nahezu unbekannt. Zu seinen Freunden zählen der Schriftsteller Ferdinand Kürnberger, der Wiener Gemeinderat Josef Klemm, sowie Johannes Nordmann, Chefredakteur der Zeitschrift Der Wanderer, für die auch Schöffel Texte schreibt. Im Freundeskreis erfährt Schöffel Neuigkeiten, die sich keine Zeitung zu veröffentlichen traut.
So wie beim Geschäft mit dem Wienerwald. "Die Presse schwieg - sie war gekauft!", zürnt Schöffel. Er wohnt in der Wienerwald-Gemeinde Mödling, nichts liebt er mehr als das Wandern. "Der Wandertrieb kann wie der Geschlechtstrieb nicht unterdrückt werden", schreibt er. Dass sein Wald verschwinden soll, will Schöffel nicht hinnehmen. Freunde warnen ihn vor dem gefährlichen publizistischen Kampf "gegen die österreichische Maffia", doch er lässt sich nicht überzeugen und drückt dem Chefredakteur des Neuen Wiener Tagblatts seinen ersten Artikel in die Hand. Der erkennt den Knüller und sichert ihm zu, seine Wienerwald-Serie zu veröffentlichen.
Der Zeitpunkt für die Kampagne ist kein Zufall. Zwei Wochen bevor der erste Artikel erschienen ist, hat das Parlament am 12. April 1870 ein Gesetz verabschiedet. Es ermöglicht, die in "Niederösterreich isoliert gelegenen Teile des Wienerwaldes" zu verkaufen. Schöffel sieht darin den Anfang von dessen Ende. Denn nicht erst seit dem Deutschen Krieg und der Niederlage von Königgrätz 1866 braucht der Staat dringend Geld. Schon in den 1860ern lässt die Regierung erste Waldgebiete privatisieren. 1863 verkauft das Kaisertum den Wald in Waidhofen an der Ybbs und Gaming. Das spült rasch 750.000 Gulden in die Staatskassa, aber der Deal wird vor allem ein glänzendes Geschäft für den Käufer. Der lässt so lange den Wald schlägern, bis er den Kaufpreis wieder herinnen hat und verkauft ihn um eine Million Gulden an eine Käufergesellschaft weiter. Die wiederholt das Spiel und verkauft ihn um drei Millionen Gulden weiter.
Das Kaisertum lernt nichts daraus. Auch in Böhmen und Galizien veräußert es riesige Waldflächen. Wieder verkaufen sie die Erstkäufer mit riesigem Gewinn weiter und erzielen zum Teil ein Vielfaches des Kaufpreises. Die Geschäfte wickelt ein neu geschaffenes Amt namens "Staatsgüter-Verschleißbüro" ab. Schöffel kritisiert, dass alle "ehrlichen Beamten" aus dem Amt verdrängt wurden und stattdessen Teilnehmer eines Käufer-Konsortiums und "die in ihren Diensten stehenden Unterhändler als Schätzmeister berufen wurden".
Nun ist auch der Wienerwald nicht mehr sicher, obwohl dieser dem Staat konstant Einnahmen bringt und der Ertrag innerhalb von 30 Jahren um das Sechsfache gestiegen ist. Zum Schaden der Wienerwald-Gemeinden räumt die Regierung im ersten Schritt dem Holzhändler Moritz Hirschl eine Monopolstellung ein, der zum Billigsttarif Holz schlägern darf. Die riesigen Kahlschläge im Landschaftsbild liefern einen Vorgeschmack, was dem übrigen Wienerwald droht. Als schließlich im April 1870 der Verkauf des ersten Teils beschlossen wird, begehrt Schöffel auf.
In seiner Kampagne deckt er die dubiosen Geschäfte auf, nennt die Politiker, Beamten und Spekulanten beim Namen und sensibilisiert die Öffentlichkeit gleichzeitig für die Bedeutung des "Wohlfahrtswaldes", der auch aufgrund des Klimas, der biologischen Vielfalt, der Bodenfruchtbarkeit und als Hochwasserschutz für die Bevölkerung Bedeutung hat. Seine Artikel sind penibel recherchiert, trotzdem landet Schöffel fünf Mal vor dem Untersuchungsrichter. Er wird wegen Ehrenbeleidigung geklagt und von der Staatsanwaltschaft aufgrund "Aufreizung zu Haß und Verachtung" angeklagt. "Zu einer Schlußverhandlung kam es nie, da sowohl die Privatkläger, als die Staatsanwaltschaft ihre Klagen rechtzeitig zurückzogen", schildert Schöffel.
Schöffels Kampf ist zäh. Das Tagblatt verräumt seine Artikel plötzlich in die Beilage, weil - so die eigenwillige Begründung der Zeitung -das Interesse für die Sache "erloschen sei". In der Redaktion taucht bald darauf ein Mann auf, der ihm 50.000 Gulden zahlen will, wenn er seine Kampagne beendet. Als Schöffel ablehnt, sucht ihn wenig später ein Forstwart auf, um ihn vor einem Mordanschlag zu warnen. Ein Fremder habe ihm erzählt, es brächte demjenigen unverhofftes Glück, der Schöffel durch einen Zufall auf der Jagd durch einen Fehlschuss treffe. Schöffel nimmt daraufhin an keiner Jagd im Wienerwald mehr teil. Seine Kampagne setzt er in der Deutschen Zeitung fort, die seine Artikel wieder prominent platziert.
Schöffels Kämpfernatur und sein Gerechtigkeitssinn zeigen sich schon früh. Joseph Schöffel kommt 1832 im böhmischen Příbram zur Welt und wächst als eines von neun Kindern in einfachen Verhältnissen auf. Sein väterlicher Freund beschreibt ihn als jemanden, der sein Temperament nicht zügeln und seine Gedanken und Gefühle nicht verheimlichen könne; der sich mit stummem Gehorsam schwer tue. Trotzdem wird Schöffel Soldat. In der Armee erlebt er Brutalität, Sadismus und Willkür. Wenn Soldaten beim Exerzieren Schweiß auf den Rock tropft, werden sie mit Stöcken verdroschen. Als ein Offizier aus einer Laune heraus einen unschuldigen Unteroffizier erschlägt, sagt Schöffel gegen seinen Vorgesetzten aus. Sein Kamerad tut es ihm gleich, obwohl er die Rache des Offiziers fürchtet. Er hält dem Druck nicht stand und erschießt sich wenige Stunden später, während Schöffel neben ihm schläft.
Als ein Vorgesetzter Schöffel wegen unverschuldeten Zu-Spät-Kommens blutig schlägt, rastet Schöffel aus, entreißt ihm den Säbel, zerschmettert ihn und wirft ihm ein Säbelstück ins Gesicht. Auf dieses "Subordinationsverbrechen vor der Front" steht die Todesstrafe. Nur dank der Intervention eines verwandten Politikers kommt Schöffel ins Narrenhaus - und wird später rehabilitiert. Nach 14 Dienstjahren lässt sich Schöffel, der gerade eine verwaiste Bürgerstochter geheiratet hat, als halbinvalider Oberleutnant pensionieren. Seit einem Feldzug leidet er an Gelenksrheumatismus. Er wird von Gichtanfällen heimgesucht und hat ein organisches Herzleiden.
Als der pensionierte Oberleutnant vor 150 Jahren - am 20. März 1872 - vor dem Richter steht, weil er die Justiz frontal angegriffen hat, hat Schöffel das Schlimmste also schon hinter sich. Nachdem der Staatsanwalt ihm vorwirft, er habe die Unwahrheit gesagt, nimmt der Prozess eine Wendung. Der Richter lässt Schöffels Dokumente doch zu, mit denen er seine Unschuld beweisen kann. Die Geschworenen sprechen ihn unter großem Jubel der Zuhörer im Saal einstimmig frei. Das Urteil ist ein Eingeständnis des staatspolitischen Versagens und hat Folgen. Der Staat lässt die beschuldigten Beamten später zwangspensionieren, einer der Spekulanten landet im Gefängnis, ein anderer ergreift die Flucht. Der Wienerwald steht heute noch.
Schöffels Triumph macht ihn schlagartig zum Volkshelden. Wienerwald-Gemeinden ernennen ihn zum Ehrenbürger, Purkersdorf benennt die Schöffelwarte nach ihm und stellt ihm zu Ehren einen Obelisken auf, der ihm wohlgesinnte Erzherzog Albrecht widmet ihm eine Messe. Ein Jahr nach seinem Triumph vor Gericht wählen ihn die Mödlinger zu ihrem Bürgermeister und gemeinsam mit den Purkersdorfern und Hietzingern ins Parlament. 30 Jahre lang vertritt Schöffel als Parteiloser verschiedene politische Gremien, wird auch Mitglied des niederösterreichischen Landtags und Mitglied der niederösterreichischen Landesregierung. Er modernisiert Mödling, verschafft der Gemeinde einen Park, ein Waisenhaus und neue Straßen.
Im Reichsrat wirbt er um eine Reform der Wehrpolitik, als Mitglied der niederösterreichischen Landesregierung ordnet er das Straßensystem neu und räumt mit der Korruption auf. Er erwirbt sich den Ruf eines visionären Sozialpolitikers, kümmert sich um die Landstreicher ebenso wie um die Waisen und Armen. Aber nichts bringt ihm am Ende so viel Ruhm ein wie sein Kampf um den Wienerwald, der heute als Meilenstein in der Geschichte des österreichischen Naturschutzes gilt.
1902 zieht sich der zähe Idealist, von Intrigen, persönlichen Angriffen und den Mühen des politischen Alltags gezeichnet, ins Privatleben zurück. Seinen Lebensabend verbringt er als Direktor eines von ihm gegründeten Waisenhauses. Am 7. Februar 1910 -drei Wochen nach dem Tod seiner Frau - stirbt der Retter des Wienerwaldes. Schöffels Name lebt in Straßenzügen und Plätzen in Wien und vielen Wienerwald-Gemeinden weiter. "Ein Einzelner kämpfte, ein Einzelner siegte", schrieb sein Freund, der Schriftsteller Ferdinand Kürnberger, über Schöffels Vermächtnis. "Wahrlich, ein unerhörter und zum ersten Male gefeierter Triumph, daß einer so kompakt solidarischen Macht, wie dem österreichischen Beamtenstaate, ein einzelner Publizist solche Erfolge abzugewinnen vermochte!"