Ordnung in der neuen Unübersichtlichkeit
Wolfgang Petritsch in Falter 24/2022 vom 2022-06-17 (S. 18)
Als Jürgen Habermas inmitten der scheinbaren geopolitischen Stasis der 1980er-Jahre eine "Neue Unübersichtlichkeit" konstatierte, mochte er sich nicht die chaotisch anmutenden Verhältnisse unserer Zeit vorzustellen. "Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus", stellte er damals fest und beschrieb damit das Ende der großen Erzählungen (auch der Tragödien) des 20. Jahrhunderts.
Wer in der jetzt vorherrschenden politischen und intellektuellen Verwirrung und Ratlosigkeit -bloß von der Banalität des Bösen zu sprechen wäre zu einfach -nach den politischen Ursachen und historischen Zusammenhängen sucht, dem ist der Griff nach Raimund Löws jüngst erschienenem Sammelband "Welt in Bewegung" dringend zu empfehlen.
Erfahren in präzise getimten Reportagen und Kommentaren in Radio und Fernsehen hat Löw in ebenso prägnanter Weise in seinen zwischen 1989 und 2022 im Falter erschienenen Analysen das aktuelle Weltgeschehen auf den Punkt gebracht. In sechs Kapiteln setzt er seine über die Jahre verfassten Analysen in den je aktuellen Kontext und gewährt uns den Vorteil der rückblickenden Überprüfung des damals Geschriebenen. Tagesaktuelle Wertungen sind oftmals, was sie sind -am nächsten Tag schon nicht mehr aktuell. Tatsächlich aber haben Löws Analysen bemerkenswerten Bestand und bereichern damit das (Wieder-)Lesen seiner Texte.
Nehmen wir etwa Löws Kommentar zur russischen Okkupation der Krim im Februar 2014. Wenige Tage danach schreibt er, dass die ukrainische Revolution "zur Weltkrise geworden" ist. Es wäre seit dem 24. Februar weniger Ratlosigkeit angesagt, wenn diese Erkenntnis bereits damals in den europäischen Staatskanzleien angekommen wäre. Für Österreichs Außenpolitik bedeutete 2014 die Ausrichtung eines Staatsbesuches von Wladimir Putin und den Beginn einer noch größeren Abhängigkeit vom russischen Gas.
Die sechs Kapitel -vier davon spiegeln Löws berufliche Stationen wider, zwei sind den Erkundungen im Nahen Osten und in Lateinamerika gewidmet -behandeln in eingängigen Beispielen auch jene Konflikte, die zwar im Augenblick vom Krieg in der Ukraine überschattet werden, deshalb aber freilich nicht minder brisant bleiben. Daher ist die im Untertitel gestellte Frage, warum denn "das 21. Jahrhundert so gefährlich geworden ist" das eigentliche Thema des Buches. Es wäre vermessen, sogleich passende Antworten zu erwarten. Löw versteht es jedoch, den verschlungenen Wegen dieser "seiner" bewegten Welt -oder ist es nicht doch ein rasender Planet? - kenntnisreich nachzuspüren.
Der Autor zeichnet in breiten Zügen die dramatischen Machtverschiebungen seit dem Ende des Kalten Krieges nach, dringt aber gleichzeitig in die gesellschaftlichen Tiefen vor, indem er "Russlands Phantomschmerzen" ebenso thematisiert wie "Chinas unheimlichen Aufstieg". Um nichts weniger dramatisch wirken sich "Amerikas Pendelschläge" zwischen Obama und Trump ebenso auf Europa aus wie auf die Auseinandersetzungen zwischen liberaler Demokratie und autoritärem Populismus - auf ein Europa, dem der Autor im Spannungsfeld multipler Krisen und illiberaler Tendenzen eine bemerkenswerte Resilienz zugesteht. Immer wieder aber bezieht Löw die großen Veränderungen auf das saturierte Österreich und vermag dazu beizutragen, dass sich diese schier unbeirrte Insel der Seligen der rauen Wirklichkeit der gefährlichen Unübersichtlichkeit stellt.