Welche Filme sollten Sie derzeit auf keinen Fall versäumen?

Quasi eine Sonderausgabe zur Viennale mit weniger Text und extra vielen Tipps. Manche der hier angeführten Filme sollen in den nächsten Wochen auch regulär ins Kino kommen - beispielsweise "Niemals selten manchmal immer", "Kajillionaire" oder "Aufzeichnungen aus der Unterwelt" -. etliche andere Empfehlungen werden Sie vermutlich so bald nicht wieder auf der Leinwand sehen können: "Her Socialist Smile", "Ascent", "The Cloud in Her Room" et cetera.

Dass man ins Kino derzeit wie auf den sprichwörtlichen Eiern geht, hat sich bei der Viennale bisher als unbegründet erwiesen. Das überwiegend junge Publikum geht rücksichtsvoll miteinander um, in puncto Abstandhalten und Mund-Nasen-Schutz herrscht große Disziplin und auch der Vorverkauf, hab ich mir erzählen lassen, lief weit besser als gedacht oder vielmehr befürchtet. So sind viele Vorstellungen schon ausverkauft, von einem Festivalhit wie "Nomadland" wird ein Zusatztermin eingeschoben (Gartenbau, 31.10., 14.30 Uhr) und wie immer bleibt als letzte Hoffnung noch die Abendkasse.

Mit ein bisschen Glück werde ich so am Sonntag "City Hall", den neuen vierstündigen Dokumentarfilm von Frederick Wiseman über seine Heimatstadt Boston, vielleicht doch noch zu sehen bekommen.

Ein schönes Wochenende mit Kino bei der Viennale wünscht

Ihr Michael Omasta

Ihr Michael Omasta

© Viennale

Niemals selten manchmal immer

Autumn ist 17 Jahre alt und ungewollt schwanger. Zusammen mit einer Freundin fährt sie von Pennsylvania nach New York, wo einer Minderjährigen der Schwangerschaftsabbruch auch ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten erlaubt ist. Auf dem Weg liegen allerlei Widrigkeiten und Demütigungen, die das Vorhaben zu einem Kraftakt machen. Ein ruhiger Film, der die Doppelmoral einer sexistischen Gesellschaft herausarbeitet.

Regie: Eliza Hittman, USA 2020
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Malmkrog

Hochsteckfrisuren, feines Porzellan und Pelzkrägen: In einem winterlichen Herrenhaus treffen im späten 19. Jahrhundert ein Landbesitzer, ein Politiker, eine Gräfin, ein General und dessen Frau zusammen und diskutieren über Tod, Krieg, Glauben und Moral. Das Personal führt indes ein Eigenleben. Basierend auf "Drei Konversationen" des russischen Philosophen, Theologen und Poeten Vladimir Solovyov.

Regie: Cristi Puiu, RO/SRB/CH/SWE/BiH/MKD 2020
Viennale

The Cloud in Her Room

Die 22-jährige Wizu fährt zum traditionellen Neujahrsfest in eine chinesische Megacity, ihre Heimatstadt. Sie trifft die längst zerstreute Familie, driftet durch die Tage, ihr Freund aus Beijing kommt zu Besuch. Quasi dokumentarisch fängt dieses experimentell angehauchte Schwarz-Weiß-Drama, das in der dezent-expliziten Körperlichkeit seiner Protagonistin an frühe Filme von Catherine Breillat denken lässt, einen melancholischen Schwebezustand ein - während die Zuseher sich stets erst zurechtfinden müssen, wie die Figuren zusammengehören.

Regie: Zheng Lu Xinyuan, CHN/HK 2020
© Viennale

Kajillionaire

Sundance-Liebling Miranda July entwirft eine bizarre, tragikomische Familie, deren Leben von Armut, Gefühllosigkeit und Härte gekennzeichnet ist: Robert, Theresa und ihre Tochter Old Dolio schlagen sich in Los Angeles als Kleinbetrüger durch. Bei einer ihrer Aktionen lernen sie Melanie kennen, deren empathiefähige Normalität ganz frischen Wind in das Gefüge des Trios bringt. Glänzend besetztes Melodram.

Regie: Miranda July, USA 2019
© Viennale

Notturno

Der italienische Dokumentarist Rosi, der 2016 mit dem Festivalhit "Seefeuer" von sich reden machte, hat im Grenzgebiet der Länder Syrien, Irak, Kurdistan und Libanon drei Jahre lang Menschen gefilmt, die auf wechselnden Seiten von den Kriegen in der Region betroffen und traumatisiert sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Kann sich das Leben aus den Ruinen erheben?

Regie: Gianfranco Rosi, I/F/D 2020
Andrej Popovic courtesy Zelimir Zilnik

Frühe Werke

Prophetisch erzählte Zilnik bereits 1969 vom Untergang eines ganzes Landes: Die weiblichen Hauptfigur trägt den Namen Jugoslavija, ihr gewaltsamer Tod hat eine fast surreal anmutende Aktualität. Offiziell gefiel die Allegorie über das Scheitern der sozialistischen Revolution ganz und gar nicht - bei der Berlinale hingegen wurde Zilniks Spielfilmdebüt mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

Regie: Zelimir Zilnik, YU 1969
© Viennale

Davos

Alljährlich findet in der Schweizer Gemeinde Davos das World Economic Forum statt. Die Doku setzt in dem Moment ein, in dem sich der kleine Skiort wieder einmal in Weltzentrale von Reichtum und politischem Protzgehabe verwandelt. Dem stehen die "Common People" – Bauern, Hotelpersonal, jugendliche Asylwerber, Sozialarbeiter – und die Widerstandsgesten, die sich im Ort entfalten, gegenüber. Ein Film über Gleichgewicht und Gegensätze, über den Kapitalismus in unserer fragmentierten Welt und den Einfluss der Mächtigen auf die Vielen.

Regie: Daniel Hoesl, Julia Niemann, Ö 2020
Vento Film

Aufzeichnungen aus der Unterwelt

Mitten im Geschehen stehen der Wienerlied-Sänger Kurt Girk und sein Haberer Alois Schmutzer. Beide müssen ihre Nähe zum illegalen Kartenspiel "Stoß" in einem umstrittenen Prozess mit langen Haftstrafen büßen. In ruhigen Schwarz-Weiß-Bildern erzählen die zwei Charismatiker, ein ehemaliger Kieberer und ein Gefängniswärter über lange vergangene Zeiten. Eine Liebeserklärung an das Wien der 1960er-Jahre, dazu ein Sittenbild österreichischer Nachkriegsgeschichte. Meisterwerk, go for it!

Regie: Tizza Covi, Rainer Frimmel, Ö 2020
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Wood

Ein Umweltkrimi. Die gemeinnützige Organisation Environmental Investigation Agency, kurz EIA, ist den Machenschaften des illegalen internationalen Holzhandels auf der Spur. Allen voran Alexander von Bismarck, ein ehemaliger US-Marine, der verdeckt gegen Profiteure und Großunternehmen ermittelt.

Regie: Ebba Sinzinger, Michaela Kirst, Monica Lazurean-Gorgan, Ö/RO/D 2020
Bild: Filmarchiv Austria

Schwitzkasten

Die Geschichte eines Arbeiters, wie sie hierzulande nie zuvor - und seither nie wieder - erzählt ward. Hermann verliert seinen Job beim Stadtgartenamt, die Eltern schmeißen ihn aus der Wohnung, er kommt ins Kriminal. Dann, die wunderbar schöne Volte, fällt er wieder auf die Füße, bekommt eine neue Arbeit und eine gute Frau. Das absolute Meisterwerk des Wiener Films, geschrieben von Cook und Helmut Zenker, dem Autor des (nachher erschienenen) Romans "Das Froschfest".

Regie: John Cook, Ö 1978
Viennale

Her Socialist Smile

Cinephile kennen Helen Keller (1880–1968) aus Arthur Penns "The Miracle Worker", der die Sprachfindung des taubblinden Mädchens erzählt. Gianvitos Doku porträtiert die erwachsene Schriftstellerin: Sie erwarb als eine der ersten Frauen einen Bachelor-Abschluss, trat für das Frauenwahlrecht, Antikriegspolitik und eine sozialistische Wende in den USA ein.

Regie: John Gianvito, USA 2020
© Viennale

Numbers

Mittlerweile ist der Filmemacher Oleg Sentsov wieder frei, doch bei dieser Parabel auf ein totalitäres System führte er noch aus einem sibirischen Lager Regie: Zehn nur mit Nummern bezeichnete Menschen sind in einer Art Gefängnis strikten wie sinnlosen Ritualen unterworfen. Ein ungeplantes Kind bringt die Ordnung ins Wanken, es kommt zum Aufstand. Doch in dieser Dystopie bringen weder Revolution noch Tod die Freiheit.

Regie: Oleg Sentsov, UKR/PL/CZ/F 2020
Viennale

Ascent

Kaum ein Naturdenkmal wurde öfter gemalt und fotografiert als Japans heiliger Berg, der Fuji. Fiona Tan hat über 600 Fotografien dieses Vulkans als visuelles Material für ihren Essayfilm ausgesucht und eine fiktionale Erzählung darübergelegt.

Regie: Fiona Tan, NL/J 2016
Photo Courtesy of Searchlight Pictures © 2020 20th Century Studios. All Rights Reserved.

Nomadland

Fern, eine Frau Anfang 60, wird in einem von Rezession gebeutelten Amerika und nach dem Tod ihres Ehemannes zu einer modernen Nomadin, die in ihrem Van lebt. Zhaos Film vereint die Schönheit der Landschaft des amerikanischen Westens mit dem Thema Einsamkeit, führt in die Welt von Gelegenheitsjobs in den Lagern von Amazon und in Trailerparks mit ihren ganz eigenen Communitys. Besetzt ist der Film neben Frances McDormand mit Laiendarstellern, die tatsächlich "houseless" sind. Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig.

Regie: Chloé Zhao, USA 2020
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