„Die Gemeinschaft der Gläubigen ist durch nichts zu ersetzen“

Wien Modern trotzt der Pandemie. Was bringt die 33. Ausgabe des Festivals für Neue Musik, die von 29. Oktober bis 29. November stattfindet?

FALTER:Woche, FALTER:Woche 44/2020 vom 27.10.2020

Foto: James Shelley / The Museum at Bethel Woods Collection

Gut gelaunt und etwas erschöpft kommt Bernhard Günther zum Interview in den Wotruba-Salon des Wiener Konzerthauses. Günther ist gerade mit dem Nachtzug aus Deutschland angereist, wo er die Donaueschinger Musiktage besuchen wollte. Aufgrund der lokalen Behördenvorschriften und des deutschen Beherbergungsverbots mussten diese jedoch kurz vor Beginn abgesagt werden.

Günther, seit 2016 künstlerischer Leiter von Wien Modern, ist zuversichtlich, dass sein Festival wie geplant am 29. Oktober beginnen kann – mit neuen Spielregeln, einem neuen Personalpass und neuen Spielstätten, klein und groß, zwischen Liesing und Krieau. 32 Tage lang stehen 44 neue Produktionen und 85 neue Stücke auf dem Programm, das heuer unter dem Motto „Stimmung“ steht. Die Konzertorte sind teils ungewöhnlich, von Instrumentenbauateliers bis zu einem virtuellen Klangraum.

Falter: Herr Günther, wie ist aktuell die Stimmung?

Bernhard Günther: Den Umständen entsprechend gut. Der Verlauf der Ereignisse in den letzten Wochen hat ja nicht gerade zur Entspannung beigetragen. Wir sind jetzt dabei, die Maßnahmen noch einmal in verschärfter Form umzusetzen. Allerdings kann ich besten Gewissens sagen, dass man im Vergleich zu anderen Situationen des täglichen Lebens gerade bei Kulturveranstaltungen in Wien so sicher vor Ansteckungen ist wie nur möglich – die Präventionskonzepte der großen Häuser werden ja vom Gesundheitsstadtrat Peter Hacker wie vom Vorsitzenden der Ampelkommission sehr gelobt.

Haben Sie je darüber nachgedacht, das Festival abzusagen?

Günther: Nein. Aber der Aufwand hinter den Kulissen, um ein Festival unter Corona-Bedingungen zu organisieren, ist unvorstellbar. Die To-do-Listen werden immer länger, vom Desinfektionsmittel, das wir von einem steirischen Schnapsbrenner beziehen, über Besprechungen mit Zweimeterabstand, Kontakttagebücher, Grippeimpfung, Teststrategien und Laborvereinbarungen bis hin zur Detektivarbeit bei Einreisebestimmungen oder den ständig nervöser werdenden Vorschriften für Veranstaltungen ohne zugewiesene Sitzplätze. Und ich will gar nicht erst anfangen von der Zeit, die draufgeht für das Anhören von Virologenpodcasts und Regierungspressekonferenzen oder in Telefonwarteschleifen von Behörden, die vermutlich in Kürze für irgendwas Zusätzliches zuständig sind.

Hat sich der Zugang der Politik zur Kultur seit dem ersten Lockdown verändert?

Günther: Das Bewusstsein ist größer. Irgendwann wurde glücklicherweise verstanden, dass Maßnahmen, die ohne Kenntnis des Kulturbetriebs erarbeitet werden, die gesamte Branche lahmlegen können. Jetzt sind die Verantwortlichen darum bemüht, das tunlichst zu vermeiden. Wozu die Hyperkomplexität von Erlässen führen kann, habe ich gerade bei der extrem kurzfristigen Absage der Donaueschinger Musiktage in Baden-Württemberg erlebt.

Warum wurde dieses Festival so knapp vor Beginn abgesagt?

Günther: Das Dickicht der behördlichen Vorschriften war für den Veranstalter nicht mehr handhabbar. Die Kreisbehörde bestand im Unterschied zu Bundesland und Bundesregierung plötzlich auf lokalen PCR-Tests, und das Beherbergungsverbot führte dazu, dass ein Berliner Techniker nicht mehr in einem Baden-Württemberger Hotel übernachten durfte. Für mich war das ein Lehrstück, wie man es als Behörde versauen kann. Es gab durch die Neuregelung keinen einzigen Corona-Fall mehr oder weniger, dafür wurde beträchtlicher Flurschaden angerichtet. Hier in Wien sind wir in ständigem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, nicht nur aus dem Kulturbereich, und wir schauen sehr aufmerksam darauf, wie die Maßnahmen umgesetzt werden.

Das heißt, Österreich geht mit der Situation besonnener um als Deutschland?

Günther: Noch kann niemand beziffern, wie hoch der wirtschaftliche Schaden in Österreich tatsächlich ist. Alleine im Wiener Musikbereich geht es um zig Millionen Euro. Es steht außer Frage, dass die Kultur, neben den Kongressen, eine der tragenden Säulen des Images der Stadt ist. Plötzlich ist alles wie ein Soufflé in sich zusammengefallen, und übrig bleiben gigantische Einnahmeausfälle und Mehrkosten. Ganz zu schweigen von den psychologischen und sozialen Auswirkungen.

Und wie beurteilen Sie nun den Umgang der politisch Verantwortlichen mit dem kulturellen Bereich?

Günther: Wenn ich höre, was vom kurzen Treffen an der bayerisch-österreichischen Grenze zwischen Bundeskanzler Kurz und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder medial berichtet wird, bin ich mir nicht sicher, ob sie die wirtschaftliche Bedeutung des Kultursektors im Vergleich zum Ski- und Wintertourismus ausreichend auf dem Schirm haben. Umso mehr fühlen wir uns jetzt verpflichtet, alles Menschenmögliche zu tun, um den Kulturbetrieb aufrechtzuerhalten.

Kultur scheint in Corona-Zeiten nicht als systemrelevant zu gelten.

Günther: Kultur ist einer der ganz wesentlichen Reibebäume der Gesellschaft. Das, was die Gesellschaft ausmacht und wie eine Gesellschaft in sich ruht, kommt ganz wesentlich im kulturellen Austausch miteinander zustande. Als ich in den 80er-Jahren nach Österreich gezogen bin, hat es mich tief beeindruckt, dass sich im Billa am Gürtel die Kassiererinnen über Claus Peymanns Burgtheaterpremiere vom vorangegangenen Wochenende unterhalten haben. Das ist nichts, was von selber passiert, nur weil irgendwo auf einem Tourismusprospekt das Wort „Kulturnation“ steht. Das muss in kleinen, liebevollen Schritten von einer Generation an die nächste weitergeben werden. Während des Lockdown haben wir versucht, es online zu simulieren. Als ich mit meiner Frau vom Sofa aus die Wittener Tage für Neue Kammermusik gestreamt habe, wurde deutlich spürbar, was fehlt, nämlich die Gemeinschaft der Gläubigen, die Fans. Das Publikum ist ein ganz wesentlicher Teil der Gleichung.

Worin liegt Ihrer Ansicht nach die zentrale Stärke von Kunst und Kultur?

Günther: Die Stärke liegt darin, dass Kultur Räume für Austausch und Wahrnehmung schafft. Menschen schauen sich etwas an, um es anschließend gemeinsam zu verhandeln. Das hat in Wien eine wichtige Tradition. In den frühen Jahren von Wien Modern ist man nach dem Konzert ins Café Heumarkt oder ins Anzengruber gegangen und hat sich gestritten, dass es geraucht hat. Ich gehe tatsächlich so weit zu behaupten, dass die Wahrnehmung und das Zur-Debatte-Stellen genau so wichtig ist wie die Kunst selbst.

Gibt es diese Streitkultur heute noch?

Günther: Ich bin grundsätzlich kein Freund von Skandalkonzerten und bevorzuge den gelassenen Umgang mit der Vielfalt. 1959 fand im Mozartsaal das legendäre Konzert des Ensembles die reihe statt. Auf den Fotos von damals sieht man junge, bürgerlich aussehende Menschen, die sich ungehobelt benehmen, schreien und pfeifen. Diese Art von Empörung hat sich nur punktuell gehalten, in Donaueschingen beispielsweise, in Wien geht es entspannter zu.

Aber prinzipiell gibt es heute für Ihr Gefühl zu wenig Widerrede des Publikums?

Günther: Ich finde nicht, dass ein Konzert besser wird, nur weil sich jemand empört. Auf gewisse Weise grenzt es ja schon fast an ein Wunder, dass man sich heute noch still sitzend ein spielfilmlanges Stück anhört, weil das im kompletten Widerspruch zur fortschreitenden Verbreitung des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms steht. Es ist eine Art Magie, wenn 1900 Menschen im großen Saal des Wiener Konzerthauses sitzen und mucksmäuschenstill dem Spiel eines Pianisten lauschen.

Wenn Sie aus Ihrem umfangreichen Programm nur eine Empfehlung aussprechen dürften: Was sollte man auf gar keinen Fall verpassen?

Günther: Hat man die Kulturtechnik des Hörens von Konzerten bereits drauf, ist das Eröffnungskonzert sicher eine gute Wahl. Die Komponistin Pauline Oliveros ist ein wunderschönes künstlerisches Beispiel für die Bedeutung des sogenannten Publikums. In ihrer „Tuning Meditation“ geht es sehr stark um Aufmerksamkeit, sich selbst und den anderen gegenüber, sowie um das berühmte „Tuning of Mind and Body“.

Was heißt das?

Günther: In der Musik werden ständig irgendwelche Instrumente gestimmt, bei Pauline Oliveros werden der Geist und der Körper der Zuhörenden gestimmt. Sie verzichtet ganz bewusst darauf, virtuose Bravourstücke zu schreiben. Stattdessen lädt sie die Zuhörer ein, sich selbst und den Klängen, die herumschwirren, zuzuhören – nach dem Motto „Werdet selber kreativ und schaut, dass ihr euch in die richtige Stimmung versetzt“.


Bernhard Günther

wurde 1970 in Thun in der Schweiz geboren. Er studierte unter anderem Cello und Musikwissenschaft, war Herausgeber des Lexikons zeitgenössischer Musik am mica, leitete des Festival ZeitRäume Basel und war Chefdramaturg der Philharmonie Luxembourg. Seit 2016 ist Günther künstlerischer Leiter des Festivals Wien Modern

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Alle Artikel der aktuellen Ausgabe finden Sie in unserem Archiv.

12 Wochen FALTER um 2,50 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!