Der Mordfall Leonie (13) - FALTER.morgen #106

Versendet am 30.06.2021

Die Tötung eines Mädchens erschüttert Wien: Was wir bisher wissen >> Kommt mit den Lockerungen am 1. Juli der Hochzeitsboom? >> Das Ende der Selbstfahrbusse >> Film-Tipps von Michael Omasta

Wetterkritik: Ein leichtes Lüfterl, ein paar Wolken – und schon hat's fünf Grad weniger. Gut so! 27 Grad sind heiß genug.


Guten Morgen!

Das hört sich eigentlich falsch an, wenn ich an das Verbrechen denke, über das wir heute berichten: Sie haben sicher schon von der Tötung der 13-jährigen Leonie gehört, die am vergangenen Samstag in der Früh leblos in Donaustadt gefunden wurde – die Obduktion ergab, dass das Mädchen schwer misshandelt und erstickt worden war.

Das wäre an und für sich schon schlimm genug. Doch der Fall bekommt aufgrund der Identität der Verdächtigen eine Dimension, die über die Tat hinausgeht. Als mutmaßliche Mörder verhaftet wurden nämlich zwei afghanische Staatsbürger – einer davon ebenfalls minderjährig und Asylwerber, der zweite bereits 18 und nach mehreren Vorstrafen eigentlich auf der Abschiebeliste (es gilt die Unschuldsvermutung).

Das wühlt die Leute auf, sowohl die Zuwanderungs-/Migrations-/Asyl-Skeptiker, als auch -Befürworter (sorry, dass ich mich auf diesen klischeehafte Gegensatz beschränke, aber sonst wird es gar zu kompliziert). Die einen sehen wieder einmal alle ihre Befürchtungen gegenüber Fremden bestätigt, die anderen verurteilen es bereits als fremdenfeindlich, wenn man die Nationalität der Tatverdächtigen nennt.

Wir wollen weder das eine noch das andere tun, sondern möglichst objektiv darstellen, was bislang über den Fall bekannt ist und was man über die Hintergründe wissen sollte. Über allem steht aber eines: Ein Kind wurde getötet, und dafür kann es keine Rechtfertigung geben.

Soraya Pechtl und Martin Staudinger


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„Viele Stimmen aus der Wohnung gehört"

Möglicherweise gibt es im Mordfall Leonie weitere Mittäter und Zeugen.

„Ich schaue von meinem Fenster direkt auf den Baum, aber ich habe es nicht bemerkt", sagt eine Nachbarin und starrt apathisch auf die Blumen und brennenden Kerzen, die Trauernde in der Viktor-Kaplan-Straße in der Donaustadt aufgestellt haben: Sie meint den Moment, an dem die Leiche der 13-jährigen Leonie von den Tätern dort abgelegt wurde.

Ein erster Obduktionsbericht ergab, dass das Mädchen sexuell misshandelt und dann erstickt wurde – mutmaßlich von zumindest zwei afghanischen jungen Männern, der eine 16, der andere 18 Jahre alt; und laut Polizei nicht am Fundort, sondern in der unmittelbar daneben gelegenen Wohnung des Älteren der beiden.

Die Nachbarin erzählt, dass sich bei ihm immer wieder mehrere junge Männer getroffen hätten: „Auch am Samstagnachmittag habe ich aus der Wohnung viele Stimmen gehört" – ein mögliches Indiz auf weitere (Mit-)Täter oder Zeugen des Verbrechens.

Aber was weiß man bislang tatsächlich …

„In lieber Erinnerung“: Kerzen, Kuscheltiere und Blumen am Fundort der getöteten Leonie © FALTER/Pechtl

… über die Tat?

Das Mädchen kannte die mutmaßlichen Täter und ist laut Polizei freiwillig mit ihnen in ihre Wohnung gegangen, wo ihr Drogen, vermutlich Ecstasy, verabreicht wurden – „mit dem Ziel sie gefügig zu machen”, sagt der Wiener Polizeipräsident Gerhard Pürstl. Danach wurde das Mädchen sexuell misshandelt und getötet.

… über die Verdächtigen?

Der 18-jährige Tatverdächtige (er wurde am Montagnachmittag in einer Pizzeria am Alsergrund verhaftet) war 2015 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Österreich gekommen. Ein Jahr später wurde ihm subsidiärer Schutz gewährt. Er hat bereits elf Anzeigen wegen Suchtgifthandels, gefährlicher Drohung und Raufhandels provoziert. 2018 wurde er zu zwei Monaten bedingter Haft verurteilt, 2019 zu weiteren zehn Wochen. Im vergangenen Jahr erhielt er dann zehn Monate Gefängnis wegen räuberischen Diebstahls. Im August 2020 wurde er vorzeitig entlassen. Im Oktober 2019 erkannte ihm das Bundesamt für Fremden und Asylwesen (BFA) den Schutzstatus ab. Er legte Beschwerde ein – seither ist das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht anhängig. Abgeschoben konnte er vorerst nicht werden, weil das die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei Minderjährigen verbietet. Allerdings hätte das Bundesverwaltungsgericht aufgrund des langen Strafregisters die Möglichkeit gehabt, ihn nach Erreichen der Volljährigkeit sofort außer Landes bringen zu lassen.

Der 16-Jährige (er wurde am Montag auf der Donauinsel verhaftet) kam erst im Vorjahr nach Österreich und stellte einen Asylantrag. Er war bislang unbescholten.

… über die Ermittlungen?

Laut der Austria Presseagentur (APA) hat sich ein syrischer Asylwerber, der einen der beiden mutmaßlichen Täter kennt, auf einen Zeugenaufruf bei der Polizei gemeldet. Der Verdächtige habe ihm Dinge erzählt, die nur der Täter wissen konnte.

… über das Kriminalitätsproblem der afghanischen Community?

Ihre Angehörigen sind überdurchschnittlich oft in Straftaten verwickelt. Das geht aus einer umfassenden Studie hervor, die das Institut für Höhere Studien (IHS) vergangenes Jahr veröffentlicht hat (hier geht's zum Herunterladen). Demnach liegt die „allgemeine Kriminalitätsbelastung von AfghanInnen” viermal so hoch wie in der durchschnittlichen Wohnbevölkerung, bei Drogendelikten neunmal und bei Sexualverbrechen sogar zwölfmal. 2018 wurden 2.200 Suchtgift- und 210 Missbrauchsfälle mit Beteiligung afghanischer Staatsbürger angezeigt.

… über Erklärungen dafür?

Zunächst ist der Anteil junger Männer in der afghanischen Diaspora besonders groß. Hinzu kommt, dass sie meistens über ein niedriges Bildungsniveau verfügen und in den vergangenen Jahren unbegleitet nach Österreich gekommen sind – also ohne ihre Familien wie frühere Immigrantengenerationen aus Afghanistan. Die IHS-Studie spricht von einer „Anpassungsproblematik … isolierter und sich selbst überlassener Gruppen männlicher Jugendlicher und Erwachsener ohne Tagesstruktur”. Hinzu kommt, dass viele in ihrem Herkunftsland mit einem hochproblematischen Frauenbild sozialisiert wurden; und (auch wenn das die Rechten nicht gerne hören), dass bei vielen eine Traumatisierung durch Krieg und Gewalt vorliegt (was natürlich auch keine Entschuldigung für ein Verbrechen ist).

Gleichzeitig ist laut IHS-Studie aber auch evident, dass junge Afghanen in Österreich im Schnitt öfter eine Lehre absolvieren und sich rascher beruflich integrieren als Angehörige anderer Zuwanderungsgruppen – das belegen zahlreiche Erfolgsgeschichten, die allerdings nur selten erzählt werden.

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Stadtnachrichten

Morgen werden die Corona-Maßnahmen noch einmal gelockert. Hochzeiten und andere Veranstaltungen sind ab 1. Juli wieder uneingeschränkt möglich. Wird das jetzt ein Sommer der Liebe?

Einen großen Hochzeitsboom erwartet Susanne Hummel, Geschäftsführerin von „Die HochzeitsHummel", nicht: „Diejenigen, die 2020 ihre Hochzeit verschoben haben, werden in diesem Jahr heiraten. Aber eine Hochzeit braucht viel Planung. Es ist also nicht so, dass wir ab 1. Juli unzählige Feiern haben werden”, sagt sie. Für die nächsten Monate ist sie aber gut gebucht.

Eheschließung im Rathaus vor der Pandemie © APA/dpa/Ina Fassbender

Ab 1. Juli fällt außerdem die Sperrstunde und die Nachtgastronomie darf wieder öffnen. Tanzen dürfen Sie dann ganz ohne Maske – aber nur mit negativem Test, Impfpass oder Genesungszertifikat. Das gilt übrigens auch für's Restaurant und den Friseur.

Die Wiener Stadtregierung will heute nochmals mit Experten über schärfere regionale Maßnahmen beraten. Bürgermeister Michael Ludwig hat aber gestern klargestellt, dass die Stadt nur „symbolische Schritte” setzen wollen. Das könnte etwa eine strengere Maskenpflicht sein.


Vorwärts in die Vergangenheit: Ein Zukunftsprojekt der Wiener Linien ist mit heute vorbei. Nach drei Jahren wurde der Testbetrieb der „autonomen E-Busse" wieder eingestellt. Der Grund: Wind, Schnee, Regen und Nebel sorgten dafür, dass die Busse nicht mehr selbst fuhren, sondern einen menschlichen Lenker benötigten. „Für einen linienmäßigen Dauereinsatz der Fahrzeuge muss der Markt noch zahlreiche Aufgaben bewältigen", so die Wiener Linien in einer Aussendung. Man habe aber „spannende Erfahrungswerte" gesammelt.

Am 6. Juni 2019 fuhren die beiden Busse erstmals mit Fahrgästen durch die Seestadt Aspern. Seither haben sie mehr als 12.000 Kilometer zurückgelegt.


Event Des Tages

Lisa Kiss

Im Rahmen des Zyklus „Musik und Dichtung“ liest Karl Markovics E.T.A. Hoffmanns rätselhafte Erzählung Die Automate“ aus dem Jahr 1814. Der titelgebende Automat ist eine mechanische Puppe, ein zur Schau gestellter „redender Türke“, der auf Zuschauerfragen verblüffende Antworten gibt. Niemand hat eine Erklärung für das Phänomen. Die Lesung begleitet das Klavierduo Johanna Gröbner und Veronika Trisko. (Sebastian Fasthuber)

Konzerthaus, Schubert-Saal, Mi 12.30 und 15.00


Wir Schicken Dich Da Raus

Es bleibt heiß – daher schicken wir Sie diese Woche in schattige Wiener Innenhöfe mit interessanter Geschichte.

Heute: Der Reumannhof

Der Reumannhof, 450 Wohnungen direkt am Margaretengürtel, war einst ein weiterer Volkspalast, den das Rote Wien 1926 im Zuge seines Wohnbauprogramms der Bevölkerung hinstellte. Ein Grundstein einer sozialen Revolution. 90.000 Obdachlose und um die 170.000 Bettgeher zählte die Stadt damals, die Tuberkulose wütete unter der ärmeren Bevölkerung, man nannte sie auch die „Wiener Krankheit". Die Gemeindebauten mit ihren Gemeinschaftsbädern, Kindergärten, Waschküchen, Ambulatorien, Turnhallen und Bibliotheken sorgten für einen Paradigmenwechsel – nicht nur die Reichen sollten gut wohnen, sondern fortan auch die Arbeiter.

Betritt man heute durch die verschnörkelten roten Gittertore den Ehrenhof des Gemeindebaus, so kann man nicht umhin, über die Großzügigkeit und den Architektur gewordenen Humanismus zu staunen, mit denen die Stadt und ihre Architekten zu jener Zeit ihre Bewohner bedachten. Und sie zeigen sich in sämtlichen Details: von den Rückzugsmöglichkeiten, die die links und rechts vom Ehrenhof gelegenen, symmetrischen Seitenhöfe bieten, in denen statt des Verkehrslärms des Gürtels lediglich das Blätterrauschen der Bäume, das Klappern des Geschirrs der Bewohner und das Murmeln ihrer Stimmen zu hören ist. Bis hin zu kunstvollen Kandelabern und Laternen, die die Gänge und Stiegenhäuser beleuchten.

Hier, im Bauch des Volkspalastes, ist gut kurz rasten und der Vorstellung nachhängen, wie der Reumannhof wohl damals bei seiner Eröffnung ausgesehen haben mag und wie die Augen seiner ersten Bewohner geleuchtet haben mochten. Heute leuchten hier wenige Augen. Der Reumannhof hat längst seinen einstigen Nimbus verloren - dabei ist er bei genauem Hinsehen immer noch beeindruckend. (Birgit Wittstock)

© wien.gv.at

Hinkommen: Linien 18, 6 Station Arbeitergasse, Gürtel (hier reinzoomen)


Buchtipp

Maxim Ossipow: Kilometer 101

Der Kardiologe Maxim Ossipow lebt in Tarussa, einer Kleinstadt knapp außerhalb der für Sowjetdissidenten 100 Kilometer um Moskau gelegten Bannmeile. Erfahrungen als Spitalsarzt in diesem Mikrokosmos aus Datscha und Opposition bilden das Zentrum des Bandes. Die Schatten der Vergangenheit von Stalin-Terror, Breschnew-Paralyse und Oligarchen-Anarchie wollen nicht weichen. Mehr als Bedrohung denn als Schutz und Zukunftshoffnung drückt die neue Putin’sche Herrlichkeit auf diese Peripherie … (Thomas Leitner)

Die gesamte Rezension und mehr über das Buch unter faltershop.at


Film Tipps

Michael Omasta

Alma (Maren Eggert) wagt ein außergewöhnliches Experiment

Ich bin dein Mensch (Kino)

Die Wissenschaftlerin Alma (Maren Eggert) forscht am Pergamonmuseum in Berlin. Um an Fördermittel für ihre Studien zu kommen, erklärt sie sich zur Teilnahme an einem außergewöhnlichen Experiment bereit. Drei Wochen lang lebt sie mit dem humanoiden Roboter Tom (Dan Stevens) zusammen, der sich dank künstlicher Intelligenz in einen perfekten Lebenspartner verwandeln soll. Komödie mit Tiefgang, schon lange nicht mehr so gelacht!

Regie: Maria Schrader, D 2021

Courage (Kino)

Maryna, Pavel und Denis haben die engen Toleranzgrenzen des autoritären Regimes schon vor Jahren nicht länger hingenommen: Sie verließen das Staatstheater Minsk, um am neu gegründeten Belarus Free Theatre aufzutreten. Zivilcourage als Gebot der Moral. Die Proben laufen heimlich, der Regisseur wird per Skype aus dem Exil zugeschaltet, die Mittel sind knapp, die Themen brisant. Das aktuelle Stück handelt (wie das Leben zwischen Alltag und Untergrund) von verschwundenen Oppositionellen und dem Verlust jeglicher Existenzgrundlage. Wer die Wahrheit ausspricht, nimmt schlimmste Repressionen in Kauf. Denis hat sich für den „Verrat an der Kunst“ entschieden, sich zurückgezogen, um seine Familie zu schützen. Doch auch wer nur zuschaut, setzt alles aufs Spiel. Seit den Präsidentschaftswahlen im August 2020 sind es Hunderttausende, die nicht mehr wegschauen. Die „laut schweigend“, gewaltfrei für einen friedlichen Machtwechsel in Belarus protestieren. (Berlinale)

Regie: Aliaksei Paluyan, D 2021

Be Pretty and Shut Up! (Stream)

Die legendäre Actrice und Feministin Delphine Seyrig, die eine Reihe berühmter Schauspielkolleginnen interviewte und die Ergebnisse zur abendfüllenden Dokumentation titels „Be Pretty and Shut Up“ montierte – lässt Juliet Berto, Ellen Burstyn, Jane Fonda, Shirley MacLaine, Louise Fletcher, Maria Schneider, Barbara Steele, Viva, Anne Wiazemsky u.a. zu Wort kommen. [Mubi]

Regie: Delphine Seyrig, F 1976


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