Stabile Fragilität

Als Risikopatientin ist der Autorin Sabine Gruber jegliche Selbstvergessenheit fremd. Corona hat die Situation noch einmal verschärft

Sabine Gruber
FALTER:Woche, FALTER:Woche 10/2021 vom 10.03.2021

Foto: Sabine Gruber

Ich habe in meinem Leben die Arschkarte gezogen und gleichzeitig im Lotto gewonnen. Mit nicht einmal 20 Jahren zu erfahren, dass beide Nieren durch eine unbemerkte chronische Entzündung irreversibel geschädigt sind und die Erkrankung über kurz oder lang zum Nierenversagen führen würde, verändert auf einen Schlag den Blick auf die Welt. Der Körper verlangt nach dauerhafter Aufmerksamkeit. Die Selbstvergessenheit, dieser herrliche Zustand, den Gesundheit ausmacht, ist mit einer solchen Diagnose nicht mehr herstellbar.

Ich habe mein Leben nach den körperlichen Überlebensbedürfnissen ausgerichtet, lebe nach einem vierjährigen Arbeitsintermezzo an der Uni Venedig in Wien, auch aus pragmatischen Gründen: Österreich besitzt eine ausgezeichnete medizinische Versorgung und ein liberales Transplantationsgesetz. Ich weiß, dass ich mein Weiterleben einem europäischen Wohlfahrtsstaat in Friedenszeiten verdanke.

Mein Lottogewinn ist meine Staatsbürgerschaft: dass ich als Südtirolerin den Österreichern gleichgestellt bin. Noch viel größer als jeder Gewinn ist die Tatsache, dass mir meine Mutter eine ihrer beiden Nieren gespendet hat. Das Transplantat arbeitet nach 27 Jahren noch immer, wenngleich altersbedingt stark eingeschränkt.

Nun ist durch diese Umstände ohnehin nur eine temporäre Annäherung an so etwas wie Normalität möglich, gleichzeitig gewöhnt man sich über die Jahre und Jahrzehnte an den Zustand, wird die fragile Stabilität oder stabile Fragilität selbst zu einer Art Normalität. Doch dann kam Corona.

Als Italienerin lebe ich online auch in Italien und war von Beginn an im Bilde, was dort ablief. Außerdem arbeitet eine Freundin als Ärztin auf einer Intensivstation in den Marken und berichtete Anfang März 2020 von ihrer Zwölf-Stunden-Schicht und den vielen Toten in ihrer Abteilung. Alle Operationspläne wurden gestrichen, Chemotherapien pausiert, Grundversorgung und Prävention ausgesetzt. Eine Zeit lang musste sogar die Triage angewendet werden.

In diese Phase fiel außerdem der Corona-Tod eines Verwandten in Südtirol. Ich reagierte sofort mit völligem Rückzug, ging bereits Anfang März mit Maske um sieben Uhr morgens auf den Samstagsmarkt. Die Einkäufe im Supermarkt erledigten Freunde. Sie stellten mir die gefüllten Taschen vor die Tür. Ihre Hilfsbereitschaft war herzerwärmend, sie gab mir Sicherheit.

Das Alleinsein bin ich als Schriftstellerin gewohnt, es ist Teil meiner Arbeit, ich liebe es. Der Gedanke, Monate ohne Kontakte zu leben, machte mir keine Angst. Ich geriet nur ein einziges Mal in Panik: Ausgerechnet im März 2020 gab es einen zweiwöchigen Lieferengpass eines für mich überlebenswichtigen Medikaments gegen die Transplantatabstoßung. In jenen schlafarmen Nächten schrieb ich mein Testament und ordnete meine Papiere.

Nachdem ich schon im Februar mit dem Wissen um die Ausbreitung des Virus in Italien meine Mitgliedschaft im Fitnesscenter gekündigt hatte, verlegte ich während des ersten Lockdowns meinen Bewegungsdrang auf die Zeit des frühen Morgens. Ich fuhr mit dem Rad fast jeden Tag auf die Donauinsel, genoss die menschenlose Natur, beobachtete Reiher und Spechte, traf im Prater auf Rehe. Ich kehrte in die Wohnung zurück, wenn die Stadt zum Leben erwachte.

Ende Dezember 2019 war mein Vater gestorben, wir hatten die Verabschiedung auf Silvester angesetzt, um 2020 nicht mit einer Beerdigung beginnen zu müssen. Dass seinem Tod noch so viele andere Tode folgen würden -damals nicht vorstellbar. Nachträglich bin ich unendlich dankbar, dass ich zuletzt Tag und Nacht bei ihm sein konnte. Unerträglich der Gedanke, ich hätte meinen Vater - wäre er nur wenige Monate später an Krebs erkrankt - nicht im Krankenhaus besuchen und nicht beim Sterben begleiten können.

Meine Krankheit hat mich früh gelehrt, Emotionen rational zu begegnen, deswegen verbrachte ich die ersten Pandemiemonate viel Zeit im Internet auf der Suche nach wissenschaftlich begründeten Informationen zu Covid-19. Je besser ich über das Virus Bescheid weiß, desto sicherer fühle ich mich. Ich trug schon früh nur FFP2-Masken; ging ab Mai zwar wieder selbst einkaufen, betrat Geschäfte aber nur, wenn kaum wer da war; ich lernte auf der Straße Entgegenkommenden auszuweichen, mied öffentliche Verkehrsmittel und beschränkte Treffen mit geliebten Menschen auf Spaziergänge im Freien. Allmählich konnte ich auch wieder arbeiten, hatte das Glück, meine Poetik-Vorlesungen an der Uni Duisburg-Essen online halten zu dürfen.

Als im Juni in Österreich die Maskenpflicht fiel, flüchtete ich mit dem Auto in das Haus von Freunden nach Apulien, wohnte allein in einem Trullo auf dem Land und badete an leeren Stränden.

Ich weiß um das Elend, das Corona über viele Existenzen gebracht hat, ich weiß um die Trauer der Hinterbliebenen, um die Angst von Risikogruppen, weiß aber auch um das Privileg einer beheizten Wohnung mit vielen Büchern, um das Privileg, noch am Leben zu sein. Mit der Impfung gehe ich in die nächste Verlängerung.


In der Reihe "Aus meiner Festung" erzählen lokale Kulturschaffende in der Falter:Woche von ihrem Alltag unter Pandemie-Bedingungen

Sabine Gruber, 1963 in Meran in Südtirol geboren, ist eine in Wien lebende Schriftstellerin, die neben Prosa und Lyrik auch Hörspiele und Theaterstücke verfasst und 2016 mit dem österreichischen Kunstpreis für Literatur ausgezeichnet wurde

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