Was wir atmen - FALTER.natur #22

Benedikt Narodoslawsky
Versendet am 20.08.2021

Jedes Mal, wenn ich meine Eltern in der Südoststeiermark besuche und dort den ersten Atemzug mache, fällt es mir sofort auf: Die Hügelluft schmeckt frisch und rein. Ich merke es auch jedes Mal, wenn ich nach Wien zurückkehre. Die Luft schmeckt anders, schwerer, schlechter.

Österreich ist ein sauberes Land. Aus den Badeseen kann man trinken, die Alpenkulisse ist paradiesisch, in der Stadt liegt kein Müll herum. Doch Dreck schwebt in der Luft. Die unsichtbare Gefahr lauert vor allem in unseren größten Städten.

Im Juni veröffentlichte die Europäische Umweltagentur einen Bericht über die saubersten und schmutzigsten Städte in der EU. Die saubersten liegen in Skandinavien, die dreckigsten in Polen und Italien. 323 Städte umfasst die Liste, Klagenfurt (Platz 52), Innsbruck (78) und Salzburg (90) finden Sie im ersten Drittel, Wien (202), Linz (206) und Graz (234) hingegen im schlechten Mittelfeld. Das hat auch mit der Geografie zu tun, Österreichs Feinstaubhochburg Graz wurde in einen Kessel gebaut, aus dem der Wind den Dreck nur schwer forttragen kann. Dass die steirische Hauptstadt schmutzig ist, liegt aber nicht nur am Kessel, es liegt vor allem auch am Verkehr.

Ein Rechnungshofbericht, der vor wenigen Monaten erschienen ist, untersuchte die Luftqualität in der Steiermark und warf einen besonderen Blick auf die Landeshauptstadt. Obwohl das Thema Luftverschmutzung in Graz seit Jahren kommunalpolitisch brennt, geschah demnach zu wenig. Was am meisten gebracht hätte, um das Problem in den Griff zu bekommen, trauten sich die Stadtpolitiker offenbar nicht anzufassen. Der Rechnungshof stellt fest: "Insbesondere fehlten wirkungsvolle Maßnahmen hinsichtlich der Hauptverursacher für die Luftverschmutzung in der Stadt Graz, des motorisierten Individualverkehrs und hier insbesondere der Diesel–Kraftfahrzeuge in Bezug auf Stickstoffdioxid." Kurz gefasst: Den Verantwortlichen war der Auspuff wichtiger als die Luft.

Auch wenn man die winzigen Partikel nicht sieht, die bei der Verbrennung entstehen, reden wir hier von keiner Kleinigkeit. Im Gegenteil: Die Luftverschmutzung ist eines der größten Umweltprobleme sowohl unseres Landes als auch der Welt. National Geographic nennt sie angesichts der verheerenden Auswirkungen in einer großartigen Cover-Geschichte eine "Pandemie in Zeitlupe".

Schmutzige Luft landet in unserer Lunge, von dort weg verbreitet sich der mikroskopisch kleine Dreck über die Blutlaufbahn und lagert sich in unseren Organen ab. Das kann unter anderem zu Schlaganfällen, Herzkrankheiten, Lungenkrebs und Atemwegserkrankungen führen. Weil jeder atmen muss, betrifft es jeden Menschen. Deshalb ist das Problem so riesig. Um es greifbar zu machen, hier ein paar Zahlen aus meiner Recherche, die Sie im aktuellen Falter lesen können und die mich ehrlich selbst überrascht haben:

  • Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass die Luftverschmutzung im Freien jedes Jahr 4,2 Millionen Menschen das Leben kostet. Zum Vergleich: An der Covid-19-Pandemie starben seit 2019 laut der Johns Hopkins University weltweit 4,4 Millionen Menschen.

  • Neun von zehn Menschen leben laut WHO an Orten, wo die WHO-Grenzwerte für Luftqualität überschritten werden. Die meisten Menschen sterben in ärmeren Ländern. Aber auch in Europa raffte die Luftverschmutzung laut einem Bericht der Europäischen Umweltagentur aus dem Vorjahr mehr als 500.000 Menschen dahin.

  • Allein in Österreich starben diesem Bericht zufolge 6100 Menschen vorzeitig durch Feinstaub, 790 durch NO₂ und 420 durch die Ozonbelastung. Das sind 7310 Opfer, die jedes Jahr frühzeitig ihr Leben verloren. Zum Vergleich: Im Vorjahr verunglückten laut Innenministerium 338 Menschen tödlich auf Österreichs Straßen. Die Luftschadstoffe kosteten also mehr als 20-mal so viel Menschen das Leben als Unfälle.

  • Das Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) berechnete, dass der erste Lockdown 11.000 Menschen in Europa allein deshalb das Leben rettete, weil dadurch die Luft sauberer wurde.

Die medizinische Rechnung ist einfach. „Je höher die Schadstoffbelastung ist, desto höher ist das Sterberisiko“, sagt Umweltmediziner Hanns Moshammer von der Med Uni Wien im Falter. Eine Studie der Uni Innsbruck vom März schätzt, dass mehr als 90 Prozent der Stickoxide in Innsbruck vom Verkehr verursacht werden. Daraus lässt sich ableiten: Je dreckiger unsere Straßen, desto mehr Menschen müssen sterben. Besonders gefährdet sind jene Menschen, die an den schmutzigsten Straßen leben. Meist sind das arme Menschen. Das macht das Thema Luftverschmutzung nicht nur zu einem umwelt- und gesundheitspolitischen Thema, sondern auch zu einem sozialpolitischen.

Die gute Nachricht: Die Luft ist laut dem Umweltbundesamt im vergangenen Jahrzehnt insgesamt deutlich besser geworden. Das liegt auch am technischen Fortschritt und den strengen Regeln der EU. Die Autos wurden sauberer, die PolitikerInnen mussten handeln, wenn die EU-Grenzwerte überschritten wurden. Städte sprachen Dieselfahrverbote aus, führten Tempolimits ein, bauten die Öffis aus. All das half, Dreck zu vermeiden.

Der Weg zu sauberen Städten ist dennoch ein weiter. Je schneller und mutiger die PolitikerInnen handeln, desto mehr Menschen können sie retten. Gerade in Graz sollten sich die KommunalpolitikerInnen ihrer Verantwortung bewusst werden. Und wenn nicht sie, dann zumindest die GrazerInnen. Am 26. September wählen sie ihren neuen Gemeinderat.

Benedikt Narodoslawsky

PS: Vielen Dank für das große Feedback auf den letzten Newsletter. Zwei LeserInnen fragten, ob es die Newsletter-Ausgaben auch online gibt. Falls es Sie auch interessiert: Sämtliche Ausgaben finden Sie zur kostenlosen Nachlese (und zum Teilen auf Social Media) auf www.falter.at/natur. Der aktuelle Newsletter kommt jeweils ein paar Stunden nach dem Versand auf die Website.

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Klimapolitik

Das 1-2-3-Ticket kommt in seiner abgespeckten Version und heißt nun "Klimaticket Now" (Infos dazu finden Sie hier). Es soll ab dem Nationalfeiertag erhältlich sein, auch wenn der Verkehrsverbund Ostregion (VOR) - also Wien, Niederösterreich und Burgenland - noch nicht dabei ist und es mehr kosten wird als geplant. Es gab viel Kritik daran, mit dem Ticket halbfertig zu starten (zum Beispiel hier, hier und hier), ich halte die rasche Einführung des Tickets hingegen für einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Denn je früher der öffentliche Verkehr in Österreich günstiger und attraktiver wird, desto schneller gelingt es uns, die klimaschädlichen Gase und Luftschadstoffe zu drosseln.

Warum das wichtig ist, zeigt dieser erschütternde Leak aus dem dritten Teilbericht des Weltklimarats, der erst nächstes Jahr veröffentlicht werden soll (zur Erinnerung: Teil 1 des Berichts erschien vor wenigen Tagen). Demnach scheint das Ziel unerreichbar, die Erderhitzung auf 1,5 Grad einzubremsen, auf das sich die Weltpolitik im Pariser Klimavertrag 2015 geeinigt hat. Wenn die klimaschädlichen Gase noch weiter steigen und wir vor 2025 keine Trendumkehr schaffen, könnten wir selbst daran scheitern, die Erderhitzung auf 2 Grad zu begrenzen. Damit hätten wir den Pariser Klimavertrag begraben. Uns bleiben also noch drei Jahre.

Und wie sieht es bei uns aus? In Österreich wurden 2020 erstmals deutlich weniger klimaschädliche Gase in die Luft geblasen als im Jahr zuvor, nämlich um 7,7 Prozent weniger. Das ist ein historischer Rückgang. Dieser hat aber nichts mit der Klimapolitik zu tun, sondern ist der Pandemie und den Lockdowns geschuldet. Es handelt sich also um keine Trendumkehr. Die Analyse des Umweltbundesamts, die sie heute veröffentlicht hat, finden Sie hier.

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Utopische Reisen

Kaum ist alles locker, wird’s schon wieder verschärft. Keine gute Zeit für langfristige Pläne. Der perfekte Zeitpunkt für Kurztrips per Bahn! Den idealen Reiseführer dazu gibt es von Matthias Dusini. Er stellt in Hotel Paradiso Orte in Mitteleuropa vor, an denen Lebensreformer, Unternehmer, Künstler und Ingenieure versuchten, eine utopische Gegenwelt zu schaffen. Die Destinationen in der Schweiz, Italien, Österreich und Tschechien lassen sich alle mit der Bahn erreichen.
Ein Buch, das den Kopf beschleunigt und Lust auf neue Reiseziele macht.


Aktiv Werden

Kommen Sie gut mit dem Rad zum Bahnhof? Und gibt es dort genügend Abstellplätze fürs Fahrrad? Der Mobilitätsverein VCÖ erhebt gerade, wie gut die Radinfrastruktur auf Österreichs Bahnhöfen ist. Wenn Sie mitmachen wollen, klicken Sie hier.


Aus Dem Falter 1

In der aktuellen Falter-Ausgabe haben wir ein Verkehrspaket für Sie geschnürt. Emil Biller hat die ersten Bauarbeiten der umstrittenen Wiener Stadtstraße verfolgt und beschreibt den dahinterliegenden Konflikt: "Bei der Stadtstraße und dem Lobautunnel geht es nicht nur um die Ausformung konkreter Projekte, um Hoffnungen und Sorgen einzelner Anrainer, es geht um eine Weltanschauung: Brauchen wir für die Zukunft der Mobilität neue Straßen? Können moderne Antworten der Stadt auf Verkehrsprobleme nicht anders aussehen?"

Eine klare Antwort darauf gibt Verkehrsexperte Hermann Knoflacher, der zu den vehementesten Gegnern der beiden großen Infrastrukturprojekte zählt. Er rollt die Geschichte des Lobautunnels historisch auf und schreibt in seinem Essay: "Warum man in der späteren Umweltverträglichkeitsprüfung die 'autofreie Seestadt' von einer Stadtstraße und der Tunnel-S1 abhängig machte, ist rational nicht nachvollziehbar und lässt sich fachlich nicht seriös begründen."

Meine Reportage über die Luftverschmutzung finden Sie hier, sie handelt auch vom engagierten Umweltaktivisten Fabian Setznagel, der auf eigene Faust den Zustand der Wiener Luft erhebt, um das unsichtbare Problem sichtbar zu machen. Außerdem kommentiere ich, warum in der Klimapolitik in Österreich noch zu wenig weitergeht.

Falls Sie an der Wiener Verkehrspolitik interessiert sind, empfehle ich Ihnen den Falter.Morgen, der dem Thema auch diese Woche mehrere Beiträge widmete. Sie können die Beiträge hier nachlesen und den Newsletter abonnieren: https://www.falter.at/morgen


Aus Dem Falter 2

Positive Beispiele in punkto Nachhaltigkeit haben Nina Horaczek und Walter Ötsch in ihrem neuen Buch "Wir wollen unsere Zukunft zurück" zusammengetragen, von dem Sie einen Vorabdruck im Falter finden. Die AutorInnen fordern auch angesichts der Klimakrise mehr politische Fantasie und setzen auf Optimismus: "Es mag auf den ersten Blick paradox klingen, aber die Tatsache, dass die Zukunft der Menschheit tatsächlich auf der Kippe steht, dass die Kipppunkte im Weltklima, die eine nicht mehr aufhaltbare Klimakatastrophe auslösen, schon so nahe sind, kann auch Hoffnung geben: Jetzt bleibt uns als Menschheit nichts anderes übrig, als rasch und gemeinsam zu handeln."

Die freie Journalistin Bettina Slamanig reiste zu den wunderschönen Gletscherflüssen nach Osttirol und erklärt in ihrer Reportage, warum die Gewässer verbaut werden können, obwohl sie EU-rechtlich geschützt sind. In ihrem Text zitiert sie auch eine Analyse der Universität für Bodenkultur Wien, die 34 der 58 heimischen Fischarten als gefährdet einstuft. Grund dafür: der Verlust an Lebensraum, vor allem durch Regulierungen und Verbauungen der Flüsse. Und auch in der Tierkolumne von Peter Iwaniewicz geht es um den Umgang zwischen Mensch und Tier. Er ergründet, aus welchen Gründen wir Tiere tilgen wollen.


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